martin krusches [flame] logbuch / blatt #99


Volkskultur in der technischen Welt: Highboy

Autonomie bedeutet, daß man sich selbst die Regeln gibt. Autonom fahrende Automobile fahren also nach eigenen Regeln. Seit die Netzkultur-Szene sich einigermaßen entfaltet hat, gehört die Begrifflichkeit "Mensch-Maschinen-Interaktion" zu meinem vertrauten Vokabular. Diese "Mensch- Maschinen-Schnittstelle", an der sich solche Interaktion ereignet, bezeichnen wir etwas kompakter Interface.

Wir müßten aber inzwischen längst über eine Mensch-Maschinen-Zivilisation sprechen, wobei wir uns neue Vorstellungen gönnen sollten, welche Arten von Maschinen uns die Technik inzwischen zur Seite oder gegenüber stellt. Hier entfaltet sich ja eine Form der Koexistenz, die noch keine Vorbilder hat; außer in der Literatur.

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Bei solchen Stichworten verfallen Kulturschaffende in meiner Umgebung bloß noch in Schweigen und Kräfte der Kommunalpolitik vertrösten mich mittlerweile seit Monaten. Ein paar inspirierte Geister ziehen allerdings mit, wo wir uns diesen Themen stellen sollten.

Ich hab in der aktuellen Veranstaltungsreihe "Handfertigkeit und Poesie" eben den Highboy thematisiert, den 1932er Ford mit dem damals brandneuen Flathead V8. Weshalb? Gerade dieses Fahrzeug hat als Coupé oder Roadster eine emblematische Qualität, die uns im eingangs umrissenen Thema einen historischen Bezugspunkt bietet.

Ich hatte eine kontrastreiche Runde an den gemeinsamen Tisch gebeten und die Kunsthandwerkerin Ida Kreutzer ersucht, einen Highboy zu backen. Das Werden dieses ungewöhnlichen Kuchens sowie der gemeinsame Verzehr des Exponates war das Ereignis, in das wir einige Debatten flochten.

Auf dem Weg in die Vierte Industrielle Revolution wissen wir längst, daß jegliche Maschinenstürmerei solche Entwicklungen nicht aufhält, nicht einmal bremst. Wir können heute in der Weltliteratur nachlesen, wie erschreckend das Elend war, in das die arbeitende Bevölkerung gestoßen wurden, als etwa Spinnmaschinen und maschinelle Webstühle unzählige Arbeitsplätze vernichteten.

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Wir wissen heute, daß die Politik gefordert ist, daß die Unternehmesleitungen gefordert sind, adäquate Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, auf daß der soziale Frieden gewahrt bleiben kann. Das schafft ein wohlhabendes Österreich derzeit leider nicht einmal im weitgehend veralteten Bildungssystem. Wir gehen also aufregenden Zeiten entgegen.

Warum nun ein Highboy als Thema, um diese Angelegenheiten zu bereden? Henry Ford gilt als der erste große Verfechter einer Serienproduktion per Fließband. Er hat das nicht erfunden, aber Anfang des 20. Jahrhunderts auf die folglich bedeutendste Industriesparte angewandt, die Automobilproduktion.

Ich greife ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert heraus. Samuel Colt führte schon 1836 einen patentierten Revolver ein, dessen Besonderheit darin liegt, daß alle seine Teile maschingefertigt und von Waffe zu Waffe beliebig austauschbar sind, also normiert.

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Von links: Graphic Novelist Chris Scheuer, Unternehmerin Jaqui Pölzer
und Kunsthandwererin Ida Kreutzer

Es ist für mich heute immer noch ein wenig rätselhaft, wie Massenproduktion und Massenkonsum in der Art zusammenfinden, daß beides auf günstige Preise gestützt bleiben kann. Eben deshalb wurde das Automobil In Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum zentralen Medium einer Massenmotorisierung. Davor war es zu teuer.

In den USA liefen solche Prozesse mit dem Ford Model T und ähnlichen Produkten schon während des ersten Jahrzehnts der 20. Jahrhunderts an. 1932 kam mit dem neuen Ford V8 Flathead ein Motor auf den Markt, der quasi als Volks-V8 ein erschwingliches Triebwerk für den Massenmarkt darstellte.

Das bedeutet, die Coupés und Roadsters dieser Ära waren zwei Jahrzehnte später als billige Basis für Modifikationen auf dem Gebrauchtwagen-Sektor reichlich vorhanden, Ersatzteile konnten problemlos und billig erworben werden.

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Darin liegen nun einige Stichworte, die jene Subkultur markieren, in welcher der Highboy eine sehr exponierte Position hat. Junge Leute waren -- wie heute -- vielfach auf billige Gebrauchtfahrzeuge angewiesen, um mobil zu werden. Diese Massenprodukte wurden dann über verschiedene Kniffe, Umbauten und Dekorationen modifiziert, auf daß sie sich von der Masse abhoben.

Der Highboy sitzt hoch auf dem Leiterrahmen, steht so im Kontrast zu den "channeled bodies", den "getunnelten" Häuseln, die über die Leiter heruntergezogen werden und Sitzplätze wie in Badewannen bieten. Außerdem müssen die Kotflügel weg.

Zu all dem gehört auch die Leistungssteigerung des Motors, was den Hot Rod überhaupt erst konstituiert. Rund um diese Optionen kristallisierte sich eine elaborierte Subkultur heraus, die ihre klaren visuellen Codes und bevorzugten Musikstile aufweist, außerdem diverses Brauchtum entwickelt hat. Es ist also definitiv eine Volkskultur in der technischen Welt.

Es ist eine Volkskultur, in der laute und möglichst starke Triebwerke mit hohem Treibstoffverbrauch bevorzugt werden. Liest man heute etwa auf Facebook kursierende Memes zu dem Thema, dann wird deutlich, daß hoher Verbrauch und hohes Tempo ganz bewußt als Ausdruck sozialer Distanz zelebriert werden.

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Es ist aber vor allem eine Volkskultur, die den gewandten Fahrer, den kühnen Steuermann feiert. In diesen Milieus ist die Erörterung autonom fahrender Wagen wohl völlig aussichtslos. Da kursieren Statements wie "Bremsen? Du meinst das Feiglings-Pedal?" Eine passable Ergänzung des recht populären Bumper-Sticker mit der Botschaft "Wer bremst, verliert".

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