Vor Ort / On Location II

„Wir Kinder der Barbaren“
(Erinnerung, Wahrheit und Vision)
Von Martin Krusche

Wenn rassistisch gefärbte Momente in einer Kultur zunehmen, wenn die „Selbstdefinition durch Feindmarkierung“ öffentlich Karriere macht, muß man annehmen, daß ein Volk in eine Identitätskrise getaumelt ist. Aber was heißt schon „Volk“ in Zeiten von Massengesellschaften? Ethnos als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe, Religion, Kultur war schon während des 20. Jahrhunderts nicht von der Eindeutigkeit, die man für die Straßen und Schienen nach Auschwitz behauptet hatte.

Diese Identitätskrisen äußern sich in steigenden Aggressionen gegen alles, was in einem aktuellen Kanon als „fremd“ ausgewiesen wird. „Das Fremde“ ist in diesem Kräftespiel nicht primär, was Einzelne subjektiv als fremd erleben, sondern was von Opinion Leaders als „das Fremde“ vorgeführt wird. Eine Konstruktion, die auf Definitionsmacht beruht, die sich auf abschätzige Wanderlegenden stützt. Ein politisches Phantasma zur Bewirtschaftung von Zukunftsängsten.

Im Grunde ist mir ein beliebiger Staatsmeister des Völkischen am Biertisch im Bahnhofscafé meiner Stadt, so ein Maulheld mit einem Geburtsort in Österreich, viel fremder als ein Flüchtling aus irgend einer Weltgegend. Denn der Flüchtling weiß um unsere Differenz. Das ist eine Qualität. Verschieden zu sein, es zu wissen, achtsam damit umzugehen. Aber der vaterländische Maulheld setzt voraus, daß wir Gleiche seien, phantasiert sich ein „Wir“, das keiner Prüfung standhält, reklamiert mich für seine Seite, bis er eventuell entsetzt feststellt, daß er einen wie mich gegen sich eingestellt vorfindet.

Wie oft gerate ich in Situationen, die mich an das Betreten eines Zugabteils erinnern. Obwohl ich das gleiche Geld wie andere für die Fahrkarte bezahlt habe, erwartet man von mir die höfliche Frage, ob ich mich hier niederlassen dürfe. Wer bloß drei Minuten vor mir dieses Ritual vollzogen hat, fühlt sich nun schon als Ansässiger, der mir diese Erwartung entgegenbringt.

Wie ist es denn mit dieser Welt und uns Menschen? Wer zufällig in eine karge Wüste geboren wurde oder in arktischen Frost, hat also dort zu bleiben? Wer in Landstrichen lebt, die von Menschen verwüstet oder von der Natur unwirtlich gemacht wurden, hat also dort zu bleiben? Wo steht das? Wer hat das verhandelt und festgesetzt?

Wir. Eine wachsende „Wir“-Heuchelei als Ersatzhandlung für eigenverantwortliche Genauigkeit im Angehen von realen Problemen. Sie kennen alle diese Reihe von Eigenschaften, welche abschätzige bis feindselige Reaktionen auslösen können. Können? Sie tun es. Dunkle Hautfarbe. Ein Akzent, der keinen „westlichen“ Eindruck macht. Ein Kopftuch. Wird ein Finne oder eine Britin auf der Straße Kränkungen erleben, weil man sie für Fremde hält? Ein Franzose? Eine Holländerin? Kaum. Im Katalog der Stereotypen sind die gängigen Positionen festgeschrieben.

Das hat Konsequenzen, die sich unseren Blicken leicht entziehen. Ein Beispiel. Unlängst wollte ich über einen Österreicher kurdischer Abstammung eine kleine Geschichte schreiben und diese regional publizieren. Er bat mich um Entschuldigung und Verständnis dafür, daß er ablehnen müsse. Sein Lokal gehe gut, er sei zufrieden, er habe Familie, Frau und Kinder; es wäre nicht gut für ihn, wenn er sich darüber hinaus in der Gegend hervortun würde.

Das ist eine ungeheuerliche Situation, einer zeitgemäßen Demokratie absolut unwürdig. Daß ein Österreicher mit grenzfernem Geburtsort sich so vor dem Zynismus seiner Mitmenschen ducken muß, verdankt sich unter anderem einer Innenpolitik, die oft ausdrücklich, meist implizit Ansichten absondert, aus denen die Menschenverachtung Legitimation bezieht. Das ist nicht bloß beschämend, es beschädigt dieses Land. Denn es steht längst außer Streit, daß eine plurale Gesellschaft zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine blühende Demokratie gehört. Was unverzichtbar ist, nämlich das Blühen der Demokratie, um sozialen Frieden zu sichern.

Ohne sozialen Frieden kann es keinen allgemeinen Wohlstand geben. Statt dessen würden die Wenigen fast alles nehmen und dem Rest der Menschen wenig überlassen. Das sind Grundlagen der Tyrannei. Denn solche Verhältnisse lassen sich von den Wenigen nur stabilisieren, wenn sie die Vielen in Mißtrauen und Angst gegen einander und alle ständig unter Druck setzen können. Aber dieser Weg der Tyrannen bietet keine Stabilität auf Dauer, mündet stets in Gräuel.

Sagt man „Europa“, werden hierzulande neuerdings verstärkt „Wir-Gefühle“ vorausgesetzt, die sowohl der Landesverfassung als auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte spotten. Wir leisten uns Ansichten, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, um auf eine völlig andere Lebens und Arbeitssituation der Menschen zu reagieren, die im 20. Jahrhundert zu großen Massakern geführt haben.

Ein Europa der nahen Zukunft will kulturell überhaupt erst neu geklärt werden. Das „Konzept Mitteleuropa“, historisch nicht gerade von beeindruckender Tragweite, ist längst hinfällig. Was uns kulturell geprägt hat, geht über solche Zonen weit hinaus. Wer sich einzig an der deutschen Sprache orientiert, wer das auch als geschichtliche Bindung versteht, macht sich selbst zum Provinzdeppen, der das meiste aufgibt, was man vor allem im sogenannten westlichen Europa als identitätsstiftend versteht. Von solcher Enge und den Barbaren geschuldeter Weltsicht zeugen heute in der Oststeiermark noch diverse Gassen, Denkmäler und Schulen, die einem Friedrich Ludwig Jahn oder Ottokar Kernstock namentlich gewidmet sind.

Auch Peter Rosegger war, als das 19. zum 20. Jahrhundert überging, nicht bloß ein Autor von Rang, sondern unter anderem auch ein Rassist und Haßprediger im Kielwasser des Nationalismus. Daß Gassen, Denkmäler und Schulen noch immer solchen Männern gewidmet sind, wäre halb so problematisch, wenn sich Kulturschaffende und Regionalpolitiker hätten aufraffen wollen, die Namens- und Gedenkafeln mit zeitgeschichtlich einwandfreien Kommentaren zu versehen. Damit allgemein ersichtlich wird, mit wem man es da zu tun hat. Doch das weigern sich Zuständige in dieser Region trotz immer wiederkehrender Enwände gegen die kritiklose Würdigung solcher Barbaren.

Die ausdrückliche „Slawenfresserei“, die Abschätzigkeit gegenüber den sogenannten „Orientalen“ und alle weiteren Spielarten der Menschenverachtung sind definitiv gegen Europa gerichtete und kulturpessimistische Haltungen. Denn die Berufungen auf „unsere kulturellen Wurzeln“, auf die antike griechische Philosophie, das römische Recht und die christliche Kirche sind Legitimationsakte, welche sich erheblich auf den „Balkan“ und den „Orient“ als Quellen europäischer Kultur beziehen. Wer unsere kulturelle Verbindung mit dem „Balkan“ und dem „Orient“ abschaffen wollte, würde die wichtigsten Teile der frühen Geschichte des heutigen Europas abschaffen.

Das städtische Leben verdanken wir dem Zweistromland. Das antike Hellas bestand überwiegend auf dem Balkan, in der heutigen Türkei und sogar in Nordafrika. Der Apostel Paulus hatte in der Nachfolge Christi die Kirche in Kleinasien, dem heutigen Anatolien, zu einer Weltreligion gemacht. Es wird gegenwärtig die Orthodoxie bei uns nicht gerade auffallend als legitimer Teil dieser Kirche betrachtet. Dabei war das schon Staatsreligion und Kirche, da hat es den „römischen Zweig“ noch gar nicht gegeben. Byzanz, schließlich Konstantinopel, heute Istanbul, war noch Residenz des Imperium Romanum, da ist Westrom von den Barbaren schon überrannt gewesen.

In der Politik Österreichs hat sich eine Tendenz bemerkbar gemacht, in der Europa auf sehr private, also unpolitische Art zurechtgedeutet wird. Wobei vor allem konservative Kreise und weit rechts aufgestellte Kräfte diese Entpolitisierung, die Privatisierung Europas auffallend forcieren. Sie schneiden sich aus der Geschichtsschreibung heraus, was ihnen paßt, kappen vieles, was man als gut sichtbare und klar beschreibbare Wurzeln dieses Europas außerhalb der heutigen EU-Grenzen eigentlich weder ignorieren kann noch darf.

Ein westliches Europa, das sich selbst in kulturellen Fragen für normativ hält, versucht, gefangen in seinen alten Codes, also auch alten Denkmustern, sich Aufgaben einer nahen Zukunft zu stellen, die von völlig anderen Voraussetzungen handeln. So gesehen ist es unverzichtbar, sich damit zu befassen, was denn der „next code“ sein wird … der einigermaßen verläßlich ausschließt, die Wege zurückzugehen. Nach Auschwitz wollten wir annehmen, solche Massaker könnten mindestens in Europa nicht mehr geschehen.

Heute muß klar sein, daß wir alle für Srebrenica Mitverantwortung tragen. Nicht Schuld, aber Verantwortung. Jedes Massaker beginnt mit einem Krieg der Worte. Also muß der Gewaltverzicht zuerst auf diesem Gebiet durchgesetzt werden. Ein aktuelles Beispiel. Man läßt uns wissen, daß der Iran unser Feind sei. Aber ich habe einen Freund in Teheran. Das können also nicht meine Feinde sein. Dieser Freund hat einen Namen und ein Gesicht. Amirali.

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Weiter: "Quer durch Europa" (Input zu „next code: in between“)


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