Next Code: Schatten #6

"Hier, dort oder anderswo…"
Mirjana Peitler

HIER: Eine Republik, mit Unterbrechungen bald 100 Jahre alt. Wunderschöne Fassaden, um die Zeiten zu verbergen, die, sagen sie, eine Schande waren.

DORT: Eine Republik, einmal 20, dann 17, dann 15 und jetzt neun Millionen Einwohner alt, ständig irgendwo dazwischen, zwischen Krieg oder Revolution.

HIER: Ein Staat, mein eleganter, großzügiger Geliebter, den ich ohne Gewissenbisse jederzeit verlassen kann.

DORT: Ein Land, das mich immer wieder zu verführen sucht, trotz der Narben, die man vor mir verbergen möchte.

Zehn Jahre so.

Zuerst kommt immer die Müdigkeit. Schon Tage vor der Rückkehr in die Heimat ist die Müdigkeit da. Müde des banalen Alltags. Müde der Heuchelei, des Jammerns, des So-tun-als-ob, worin man auf die Dauer Meisterschaft entwickeln kann. Aber doch müde.

Dieses satten, pathetischen Flecken Europas müde, der vor sich hin lebt, im Konsum, im augenblicklichen Vergessen. Oder in kurzen, sterilen Erregungen, die zum Glück keine Spuren im Gesicht hinterlassen. Die Kunst der wirklichen falschen Gefühle.

Es hätte heißen können: „Zurück ins Land des Sterbens“. Denn wie oft hat SIE diese Reise gemacht? Wie oft hat SIE durch die Fensterscheibe die weiten, schwarzen Felder gesehen? Und doch kommt jedesmal ein Stich im Herzen, die selbe Rührung, die selbe Angst, ein Stigma der Jahre des Sterbens ... die Angst. Die in IHR mehr und mehr wächst, wenn das Fahrzeug in die letzte Kurve vor der Grenze kommt.

Und dann wird IHR wieder warm ums Herz, das kräftig schlagen wird. Die Angst wird zur Herausforderung werden und nach ein paar weiteren Herzschlägen sich in Kraft verwandeln. SIE spürt schon, bei ersten Schritten, wie ihre Füße die ersten Takte des kleinen, aufgeputzten Geigenspielers mitmachen. Dem es aber nie gelingen wird, in IHR die Erinnerung daran auszulöschen, daß das alles hier früher ganz anders war.

Und dann kommt die Stadt. Von SIE überfallen wird. Die Stadt ist da, übervölkert, müde, laut und unruhig. Alles auf einmal. IHRE Stadt. Ohne daß sie IHR schöne Augen hätte machen müssen, ist SIE von ihr wieder neue verführt. Durch einen einzigen Geruch, einen einzigen Klang, schon bei der erste Straßenkreuzung.

SIE kämpft mit dem Verlangen auszusteigen und in die Menge unterzutauchen. Die Unbekannten auf der Straße zu berühren, ihre Witze anzuhören, mit ihnen zu lachen. Aber das ist lächerlich. Jene Leute, die im Norden Statistiken der Ausländerpolizei füllen, haben hier, auf diesen Straßen, ihre Gesichter, ein Leben, ein Schicksal.

Ja, hier liebt man schwer und tötet leicht. Diese Bilder sind fad geworden. Und die Schutzpanzer zu dick. Mauthausen, Jasenovac, Srebrenica. Schutz vor der ungeheuerlichen Wahrheit. Vor dem Unvorstellbaren. Schutz. Schutz vor HIER, Schutz vor DORT. Schutz vor ANDERSWO. Schutz vor SELBST.

Schließlich sind immer dieselben Gene im Spiel, hier, dort oder anderswo.

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20•06