Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#22)

Wahre Theologie und Aberglaube (c)


Wenn also die Menschen keine Prinzipien machen können - woher nehmen sie dann das Wissen
über diese Prinzipien, das es ihnen ermöglicht, sie nicht nur auf hier auf Erden anzuwenden,
sondern sogar, um die Bewegungen von immens weit entfernten Himmelskörpern zu
bestimmen? Woher, frage ich, könnten sie dieses Wissen haben, wenn nicht vom Studium
der wahren Theologie?

 

Es ist die Struktur des Universums, die uns dieses Wissen gelehrt hat. Diese Struktur ist
ein immerwährendes Anschauungsmaterial all jener Prinzipien, auf denen die gesamte
mathematische Wissenchaft gründet. Ein Kind dieser Wissenschaft ist die Mechanik, denn
Mechanik ist nichts anderes als die praktische Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien.

Jemand, der die Bauteile einer Mühle konstruiert, verwendet dieselben Prinzipien, die
ihm auch dazu dienen könnten, ein Universum zu bauen. Da aber die Menschen
der Materie nicht jene unsichtbare Kraft verleihen können, mithilfe derer alle Teile
der Universumsmaschine aufeinander Einfluß ausüben und sich im Einklang fortbewegen,
ohne einander jedoch zu berühren - wir Menschen haben dafür Namen wie Anziehungskraft,
Gravitation und Abstoßung erfunden - behelfen sie sich mit einem bescheidenen Ersatz
für diese Kraft, wie etwa Zahnrädern.

 

Alle Teile des menschlichen Mikrokosmos müssen einander sichtbar berühren; wären
wir jedoch fähig, Einsicht zu gewinnen, die uns jene Kraft anwendbar machte,
dann könnten wir sagen, daß ein weiteres kanonisches Buch des Wortes Gottes entdeckt
wäre.

 

Wären wir imstande, die Proportionen des Hebels zu ändern, so könnten wir auch
die Eigenschaften eines Dreiecks verändern, denn ein Hebel (stellen wir uns hier
eine Balkenwaage vor, der Erklärung halber) bildet ein Dreieck, wenn er sich bewegt.

Die Linie am Beginn der Bewegung (ein Punkt auf dieser Linie wäre der Scheitel),
die Linie am Ende der Bewegung und die Kreissehne des Bogens, den der Hebel während
seiner Bewegung beschreibt, sind die drei Seiten des Dreiecks. Der andere Arm
des Hebels beschreibt gleichfalls ein Dreieck. Und die korrespondierenden Seiten dieses
Dreiecks, wissenschaftlich berechnet oder geometrisch vermessen, ebenso wie die
Sinusse, Tangenten und Sekanten, stehen im gleichen Verhältnis wie die verschiedenen
Gewichte, die die beiden Arme der Waage im Gleichgewicht halten, vom Gewicht des Hebels
einmal abgesehen.

 

Man kann zwar sagen: Menschen können Räder und Achsen machen, sie können Räder
verschiedener Größe zusammenstellen und eine Mühle konstruieren. Man gelangt aber
wieder zum selben Punkt - der da lautet, daß er das Prinzip, das diese Räder funktionieren
macht, nicht erfunden hat. Dieses Prinzip ist genauso unveränderlich wie in den bereits
genannten Beispielen - genauer gesagt: Es ist das selbe Prinzip in einer andern
Erscheinungsform.

 

Die Kraft, die diese Räder verschiedener Größe aufeinander ausüben, steht in demselben
Verhältnis, in dem die beiden Halbmesser dieser Räder zueinander stünden, machte
man aus ihnen einen Hebel wie den von mir beschriebenen und befestigte ihn an dem
Punkte, an dem die beiden Halbmesser einander berühren. Denn die beiden Räder sind
nichts anderes als die beiden Kreise, die durch die Bewegung des solcherart konstruierten
Hebels entstehen.

 

Das Studium der wahren Theologie gibt uns das Wissen in den Wissenschaften, und aus
diesem Wissen sind alle Künste entstanden.

 

Der allmächtige Lektor hat die Menschen zum Studium und zur Nachahmung angeregt,
indem er diese wissenschaftlichen Prinzipien in der Struktur des Universums sichtbar
gemacht hat. Es ist, als hätte er den Bewohnern dieses Globus, den wir "unsere Erde"
nennen, gesagt: "Ich habe diese Erde gemacht, daß die Menschen auf ihr wohnen,
und ich habe den bestirnten Himmel sichtbar gemacht, um ihnen Wissenschaft und
die Künste zu lehren. Sie können nun für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen und von
meiner Freigiebigkeit lernen, gut zueinander zu sein
."

 

Welchen anderen Zweck, als uns Menschen etwas zu lehren, hätte es sonst, uns
mit der Gabe auszustatten, eine Unzahl von Welten in unvorstellbar großer Distanz
im Ozean des Weltraums wahrnehmen zu können? Wozu ist uns diese Zahl
an Welten sichtbar? Was kümmern uns die Pleiaden, der Orion, der Sirius, der Nordstern,
die Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur, wenn sie uns nichts nützen?

Ein geringeres Sehvermögen wäre für uns Menschen ausreichend gewesen, wenn
das riesige Sehvermögen doch nur auf die unermeßliche Wüste eines glitzernden Raumes
verschwendet werden würde.

 

Nur wenn wir uns den Sternenhimmel, wie wir ihn nennen, als das Buch und die Schule
der Wissenschaft vorstellen, entdecken wir den Nutzen oder die Vorteile, die wir durch
dieses große Sehvermögen haben. Wenn wir es unter diesem Gesichtspunkt betrachten,
so ergibt sich ein weiterer Grund für den Satz: Nichts wurde vergeblich gemacht.
Denn vergeblich wäre dieses Sehvermögen, könnte es uns nichts lehren.

 


core | start | home
50•09