Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#36)

Propheten und ihre Prophezeiungen


Ich habe in einem früheren Kapitel dieses Werkes gezeigt, daß man die ursprüngliche

Bedeutung der Wörter Prophet und Prophezeiung abgeändert hat und daß ein Prophet

im heutigen Sinne des Wortes eine Kreatur modernen Erfindungsgeistes ist. Diesem

Umstand verdanken wir, daß jene hochfliegenden Metaphern der jüdischen Poeten und

jene Phrasen und Ausdrücke, deren Bedeutung nun im Dunkeln bleibt, da wir nicht mehr um

die lokalen Umstände wissen, auf die sie zu jener Zeit gepaßt haben mögen, nun in den

Status einer Prophezeiung erhoben worden sind, um sie je nach Laune und der

verrückten Einbildungskraft von Sektierern, Schriftauslegern und Kommentatoren beliebig

zu deuten.


Jede Dummheit war prophetisch, alles Unbedeutende typisch. Jeder Unsinn taugte für

eine Prophezeiung, jedes Geschirrtuch war ein Modell.


Wenn wir unter einem Propheten jemanden verstehen, dem der Allmächtige ein zukünftiges

Ereignis zugeflüstert hat, dann hat es solche Menschen entweder gegeben oder nicht.

Wenn es sie gegeben hat, ist es nur billig anzunehmen, daß sie solche zukünftigen Ereignisse

auf eine Weise kommuniziert haben, die man auch verstehen konnte, und nicht auf eine

so obskure und lockere Art, die den damaligen Zuhörern unverständlich bleiben mußte und so

vieldeutig war, daß beinahe jedes beliebige Ereignis der Nachwelt auf die Prophezeiung paßte.

Man denkt sehr respektlos vom Allmächtigen, wenn man annimmt, er ginge so scherzhaft mit

der Menschheit um: freilich alle Prophezeiungen in der Bibel unterstützten diese Annahme.


Es ist aber mit der Propheterei wie mit den Mirakeln: Selbst wenn sie wahr wäre, könnte sie

doch ihren Zweck nicht erfüllen. Jene, denen prophezeit wurde, konnten nicht feststellen, ob

ihnen eine Lüge oder eine Prophezeiung aufgetischt worden war, ob sie dem Propheten eingegeben

worden war oder ob er sie erfunden hat. Selbst wenn das Ding, das ein solcher Prophet vorhergesagt

hat oder vorhersagen wollte, eintreten würde - unter den vielen Dingen, die sich Tag für Tag

ohnehin ereignen - so wäre doch nicht klar, ob er es tatsächlich antizipiert, ob er es einfach

erraten hat - oder ob es schlicht ein Zufall war.


Mithin ist ein Prophet ein unnützer und unnotwendiger Charakter. Man ist auf der sicheren Seite,

wenn man sich gegen einen Betrug vorsieht und den Prophezeiungen keinerlei Glauben schenkt.


Alles in allem sind Mysterien, Wunder und Propheterei Anhängsel einer märchenhaften und

nicht einer wahren Religion. Sie sind das Mittel, wodurch so viele "Da, schau!" und "Schau, dort!"

sich in der Welt ausgebreitet und die Religion in einen Geschäftszweig verwandelt haben. Der

Erfolg des einen Betrügers ermunterte den nächsten, und der beruhigende Beifall dafür, wenigstens

ein wenig Gutes getan zu haben, indem man einen frommen Schwindel aufrecht erhielt, diente

als Schutz vor allzu schlechtem Gewissen.

 

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Photo: Hunstanton, North Norfolk

 


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