Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#41)

 

Kapitel I


Über das Alte Testament (a)


Es ist oft gesagt worden, man könne alles mit der Bibel beweisen. Aber bevor man erlaubt,

daß die Bibel alles beweist, muß erst einmal bewiesen werden, daß die Bibel selbst wahr ist.

Wenn nämlich die Bibel nicht wahr ist oder Zweifel an ihrer Wahrheit gehegt werden können,

dann verliert sie ihre Autorität und kann nicht als Beweismittel herangezogen werden -

egal wofür.


Es war immer schon Praxis aller christlichen Bibelkommentatoren und Priester und Prediger,

der Welt die Bibel als einen Haufen Wahrheit und als Wort Gottes aufzunötigen. Sie haben

über die vermeintliche Bedeutung der Bibel und einzelner Passagen darin debattiert und gestritten

und einander darüber verflucht. Der eine behauptete und bestand darauf, daß diese oder jene Passage

genau das bedeute, ein anderer bewies genau das Gegenteil und ein Dritter war überzeugt,

daß sie weder das eine noch das andere heißen könne, sondern etwas davon völlig Verschiedenes.

Das nannte man Verstehen der Bibel.


Wie der Zufall es will, sind alle Antworten, die ich auf den ersten Teil von "Das Zeitalter der Vernunft"

gesehen habe, von Priestern verfaßt. Und diese frommen Herren debattieren und streiten wie ihre

Vorgänger. Und sie verstehen die Bibel. Jeder versteht sie anders, aber jeder versteht sie am besten.

Sie sind in keinem Punkt einig - außer darin, ihren Lesern zu erzählen, daß Thomas Paine die Bibel

nicht versteht.


Aber anstatt ihre Zeit damit zu verschwenden und ihre Gemüter in verdrießlichen Disputationen

über lehrmäßige, aus der Bibel abgeleitete Punkte zu erhitzen, sollten diese Herrschaften 

das Folgende wissen - und wenn sie es nicht wissen, gebietet mir die Höflichkeit, es ihnen zu sagen:

Man muß zuerst verstehen, ob es genug Beweise dafür gibt, daß die Bibel das Wort Gottes ist, oder nicht.


Es passieren in diesem Buch Dinge, angeblich auf ausdrücklichen Befehl Gottes, die so schockierend

sind und so im Gegensatz zu jeder Idee von Humanität und moralischer Gerechtigkeit stehen wie

alles was Robespierre, Carrier oder Joseph le Bon in Frankreich, die englische Regierung in den East Indies

oder viele andere Mörder in unserer Zeit verbrochen haben. Wenn wir in den Büchern, die Moses,

Joshua etc. zugeschrieben werden, lesen, wie die Israeliten über Völker herfielen, die ihnen keinen

Anlass dazu gegeben hatten, daß sie diese Nationen mit dem Schwerte unterwarfen, daß sie weder

Alter noch Jugend verschonten, daß sie Männer, Frauen und Kinder brutal umbrachten, daß sie keine

Menschenseele am Leben ließen - Ausdrücke, die wieder und wieder in diesen Büchern auftauchen,

nochdazu in einem grausamen Jubelton: Sind wir dann sicher, daß es sich dabei um Fakten handelt?

Sind wir sicher, daß der Schöpfer der Menschen dies in Auftrag geben haben kann? Und können wir

folglich sicher sein, daß diese Bücher auf sein Geheiß hin geschrieben worden sind?


Das Alter einer Geschichte ist noch kein Beweis für ihren Wahrheitsgehalt. Im Gegenteil - es ist ein

Symptom für ihren märchenhaften Charakter. Je älter eine Geschichte vorgibt zu sein, desto eher

ähnelt sie einem Märchen. Der Ursprung jeder Nation ist in märchenhaften Traditionen begraben,

und jener der Juden macht da keine Ausnahme.


Wenn man dem Allmächtigen Taten zuschreibt, die ihrer Art nach und unter allen Regeln

moralischer Rechtssprechung wie jedes Morden, und speziell das Hinschlachten

von Kindern, Verbrechen sind, dann ist das doch sehr bedenklich. Die Bibel sagt uns,

daß diese Blutbäder auf ausdrücklichen Befehl Gottes hin verübt worden sind.


Wenn wir also der Bibel glauben wollen, müssen wir zuerst all unseren Glauben an die moralische

Gerechtigkeit Gottes aufgeben. Denn was haben weinende oder lächelnde Kinder verbrochen?

Um die Bibel ohne Grauen zu lesen, müssen wir all das aufgeben, was in den Herzen der Menschen zart,

mitfühlend und gütig ist. Was mich angeht - hätte ich keinen anderen Beweis dafür, daß die Bibel

erfunden ist, als das Opfer, das ich bringen müßte, um an ihre Wahrheit zu glauben: Das allein wäre

schon ausreichend für meine Entscheidung.


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