Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#47)

 

Kapitel I


Über das Alte Testament (g)


Es besteht eine frappierende Konfusion von historischer und chronologischer Anordnung im Buch

Richter. Die fünf letzten Kapitel des Buches, 17, 18, 19, 20, 21 spielen chronologisch vor allen

vorangehenden Kapiteln, sie handeln von Dingen, die sich 28 Jahre vor dem 16. Kapitel, 266 Jahre vor

dem 15., 245 vor dem 13., 195 vor dem 9., 90 Jahre vor dem 4. und 15 Jahre vor dem ersten Kapitel

zutragen. Das allein zeigt schon den unsicheren und märchenhaften Charakter der Bibel.


Der chronologischen Anordnung zufolge fanden die Einnahme von Laish und der Namenswechsel zu

Dan 20 Jahre nach dem Tod des Joshua statt, der Moses Nachfolger war. Gemäß der historischen

Abfolge, wie sie im Buch enthalten ist, spielt die Geschichte 306 Jahre nach dem Tod des Joshua und

331 nach dem Tod des Moses. Beide aber führen dazu, Moses als Autor der Genesis ausschließen zu

können, denn in beiden Versionen gab es zu Lebzeiten des Moses keine Stadt mit dem Namen Dan.

Folglich muß der Text von jemandem verfaßt worden sein, der nach der Namensänderung von Laish

zu Dan gelebt hat. Wer diese Person war, weiß keiner, mithin ist der Autor der Genesis anonym und

daher auch wenig vertrauenswürdig.


Ich werde noch einen weiteren historisch-chronologischen Beweis anführen, der wie der vorhergehende

zeigen wird, daß Moses nicht Autor des Buches Genesis ist.


Im 36. Kapitel der Genesis wird ein Stammbaum der Nachfolger Esaus gegeben, die man Edomiten

nennt, nebst einer Namensliste der Könige von Edom. Im Zuge der Aufzählung aller Namen wird

(Vers 31) gesagt: Dies sind die Könige, die Edom regierten, noch lange bevor auch nur ein König über

die Kinder Israels herrschte.


Nun nehmen wir einmal an, man fände ein undatiertes Schriftstück, in dem bei der Berichterstattung

über vergangene Ereignisse der Verfasser sagte "Diese Dinge geschahen, bevor es den Congress

in Amerika gab oder bevor der Konvent in Frankreich existierte": Das wäre ein klarer Beweis dafür,

daß der Text keineswegs vor, sondern nur nach der Einrichtung des Congress in Amerika oder

des Konvents in Frankreich geschrieben worden sein kann. Folglich kann auch der Verfasser nicht

jemand sein, der gestorben ist, bevor es den Congress im einen und den Konvent im anderen Land

gegeben hat.


Nichts kommt häufiger vor, als die Erwähnung einer Begebenheit anstelle eines Datums - sowohl in

der Geschichtsschreibung als auch in alltäglicher Konversation. Es ist dies auch sehr natürlich,

denn erstens bleibt eine Begebenheit besser im Gedächtnis haften als ein Datum, zweitens aber

enthält eine Begebenheit immer auch das Datum und schafft es somit, gleich zwei Ideen in einem

zu transportieren. Diese Art und Weise des Sprechens anhand von Begleitumständen impliziert ebenso

deutlich wie die direkte Erwähnung, daß der angesprochene Umstand bereits vergangen ist.


Wenn jemand über egal was berichtet und sagt, das war vor meiner Hochzeit oder vor der Geburt

meines Sohnes oder vor meiner Reise nach Amerika oder nach Frankreich, ist es vollkommen klar,

daß er verheiratet ist, einen Sohn hat und bereits in Amerika oder Frankreich gewesen ist: Und es ist

auch die Intention des Sprechers, daß dies so verstanden wird. Die Sprache gestattet diese Art des

Ausdrucks auch in keiner anderen Weise. Wann und wo immer man also auf eine solche Form stößt,

weiß man ganz klar, wie sie zu verstehen ist - es gibt keine Möglichkeit, sie anders zu verstehen.


Die zitierte Passage - Dies sind die Könige, die Edom regierten, noch lange bevor auch nur ein König über

die Kinder Israels herrschte - kann also erst geschrieben worden sein, nachdem der erste König

über die Kinder Israels zu herrschen begonnen hatte. Das Buch Genesis kann demnach keinesfalls von

Moses, sondern frühestens in der Zeit Sauls verfaßt worden sein.


Das ist der Sinn der zitierten Passage. Freilich der Ausdruck auch nur ein König setzt mehr als einen

König voraus, zwei zumindest - womit wir in der Zeit Davids gelandet sind. Wenn man weiter generalisiert,

gelangt man bis ans Ende der jüdischen Monarchie.


Fänden wir dieselbe Phrase in einem Teil der Bibel, der ganz offen zugibt, nach Beginn der Königsherrschaft

in Israel entstanden zu sein, so könnten wir uns ganz sicher in der angeführten Interpretation sein.

Zufälligerweise läßt sich dieselbe Phrase auch an anderer Stelle finden: Die zwei Bücher der Chronik, die

eine Geschichte aller Könige Israels geben, sind nach Beginn der jüdischen Monarchie verfaßt und geben

dies auch zu. Der von mir zitierte Vers und auch alle übrigen Verse des 36. Kapitels der Genesis finden

sich Wort für Wort im ersten Kapitel der Chronik, beginnend mit dem 43. Vers.


Es ist nur konsistent, wenn der Autor der Chroniken in 1 Chronik, Kapitel 1, Vers 43 sagt:

Dies sind die Könige, die Edom regierten, noch lange bevor auch nur ein König über

die Kinder Israels herrschte. Denn er listet in Folge alle Könige, die je in Israel regiert hatten.

Es ist ebenso unmöglich, denselben Ausdruck vor jener Zeit zu gebraucht zu haben, wie es

- im Gefolge der Analyse historischer Sprachverwendung - gewiß ist, daß dieser Teil der Genesis

aus den Chroniken abgeschrieben ist: Die Genesis ist damit nicht älter als die Bücher der Chronik,

wahrscheinlich auch nicht älter als Homer oder die Fabeln Aesops, wenn man anhand von Zeittafeln

annimmt, daß Homer ein Zeitgenosse Davids oder Salomos war und Aesop etwa gegen Ende

der jüdischen Monarchie gelebt hat.


Man nehme von der Genesis den Glauben weg, Moses sei ihr Autor, anstelle dessen bloß der

Glaube daran stand, sie sei direkt von Gott verfaßt, und es bleibt nichts übrig als ein anonym

verfaßtes Buch mit Geschichten, Fabeln sowie überlieferten oder erfundenen Absurditäten - oder

glatten Lügen. Die Erzählung von Eva und der Schlange oder von Noah und seiner Arche fällt

auf das selbe Niveau wie Tausendundeine Nacht - ohne den Vorteil, unterhaltsam zu sein.

Und der Bericht darüber, wie die Menschen acht- oder neunhundert Jahre alt geworden seien,

ist genauso ein Märchen wie die Unsterblichkeit der mythischen Giganten.

 


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