Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#57)

 

Kapitel I


Über das Alte Testament (r)


Aber nicht einmal als Geschichtsschreiber ist auf die Herren großer Verlaß. Im zweiten Kapitel im

Buch Ezra macht der Autor eine Auflistung aller Stämme und Familien und gibt die präzise Anzahl

der Seelen in diesen Stämmen an, die von Babylon nach Jerusalem zurückgekehrt waren. Diese

Addition und Erfassung von Heimkehrern scheint eines der Hauptziele dieses Buches zu sein - nur

leider unterläuft dem Autor dabei ein Fehler, der das gesamte Unterfangen wertlos macht.


Die Aufzählung beginnt auf folgende Weise, Kapitel 2, Vers 3: "Die Kinder von Parosh, zweitausend-

einhundertvierundsiebzig.". Vers 4, "Die Kinder von Shephatiah, dreihundertzweiundsiebzig". Und

so fährt er fort, bis er alle Familien hergezählt hat. Im 64. Vers dann bildet er die Summe und sagt:

"Die gesamte Schar bestand aus zweiundvierzigtausenddreihundertsechzig Leuten."


Wenn sich aber jemand die Mühe macht, alle die genannten Zahlen in der Liste zu addieren,

dann wird er finden, daß die Summe lediglich 29818 beträgt. Ein Fehler von 12542. Was soll

man dann an der Bibel überhaupt ernst nehmen?


Auch Neremias gibt uns eine vergleichbare Liste der Heimkehrer und jeweils die Zahl der

Familienmitglieder. Wie in Ezra hebt er an, Kapitel 7, Vers 8: "Die Kinder von Parosh, zweitausend-

einhundertzweiundsiebzig" und so weiter durch alle Familien. Die Liste weicht in mehreren Details

von der im Buch Ezra ab. Im 66. Vers bildet Neremias seine Summe, und behauptet, im selben

Wortlaut wie schon Ezra: "Die gesamte Schar bestand aus zweiundvierzigtausenddreihundertsechzig

Leuten". Allerdings lautet die korrekte Summe seiner Liste 31089, der Fehler hier beträgt mithin

11271. Für Bibelschreiber sind die beiden vielleicht gut genug, wo aber Wahrheit und Exaktheit

gefragt wären, taugten sie wenig.


Es folgt das Buch Esther. Wenn Madame Esther es sich zur Ehre anrechnet, sich als Gespielin

dem Ahasverus angedient zu haben oder als Rivalin zur Königin Vashti, die es abgelehnt hatte,

zu diesem Trunkenbold von einem König inmitten eines besoffenen Hofstaates auch nur hinzugehen,

wenn sie dort ohnedies nur verhöhnt würde (der Bericht spricht von einem sieben Tage

dauernden Gelage und davon, wie fidel alle waren), so lassen wir das besser die Angelegenheit von

Esther und Mordechai bleiben: Es geht uns nichts an. Wenigstens mich geht das nichts an. Einmal

abgesehen davon, daß die gesamte Geschichte einen sehr erfundenen Zug aufweist und zudem

von anonymer Hand stammt. Ich fahre gleich mit dem Buch Hiob fort.


Das Buch Hiob unterscheidet sich in seinem Charakter deutlich von allen bisher diskutierten.

Verrat und Mord kommen zum Beispiel hier nicht vor. Es handelt sich vielmehr um die Meditationen

eines Geistes, der mit der Unbeständigkeit des Lebens hadert, darin unterzugehen scheint und sich

dagegen auflehnt.


Es ist eine hochgradig durchkomponierte Arbeit, zwischen willenloser Unterwürfigkeit und

unabsichtlichem Zorn schwankend, die den Menschen zeigt, wie er eben manchmal ist: 

Dazu neigend, zu verzweifeln und zum Leben unfähig zu sein. Geduld ist nicht gerade eine

Stärke der Hauptfigur, im Gegenteil: Hiobs Kummer ist oft jäh und grob, und doch versucht er,

ihn unter Kontrolle zu halten und sich selbst die harte Pflicht der Genügsamkeit aufzuerlegen.


Ich habe im ersten Teil von "Das Zeitalter der Vernunft" sehr respektvoll vom Buch Hiob gesprochen,

ohne aber zu wissen, was ich mittlerweile herausgefunden habe - daß nämlich aller Evidenz nach

das Buch Hiob nicht zur Bibel gehört.


Ich habe die Meinungen von zwei hebräischen Kommentatoren darüber gelesen, und zwar von

Abenezra und Spinoza. Beide sind sich darin einig, daß das Buch Hiob keine internen Beweise

dafür enthält, hebräisch zu sein, ja daß der Geist des Buches und die Kompositionstechnik eher

darauf hindeuten, daß es kein hebräisches Werk ist. Sie glauben, daß es aus einer anderen Sprache

ins Hebräische übertragen worden ist und der Autor des Buches ein Heide war.

Der Charakter mit dem Namen Satan (der hier das erste und einzige Mal im Alten Testament vorkommt)

entspricht keiner hebräischen Idee, genausowenig wie die zwei Versammlungen der Söhne Gottes,

die Gott angeblich einberufen habe, oder die enge Beziehung, die dieser Satan zu Gott haben soll,

hebräischen Ursprungs sind.

 


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