Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#80)

 

Kapitel III

 

 

Nun zum Neuen Testament (j)


Aber zurück zum Thema. Obwohl es nach einer so langen Zeit unmöglich ist, mit Sicherheit festzustellen,

wer die Autoren dieser vier Bücher wirklich waren (das allein schon muß uns zweifeln lassen, und wo wir

zweifeln, glauben wir nicht), so läßt sich doch recht einfach beweisen, daß es nicht die vier Herren waren,

denen man die Werke zuschreibt. Die Widersprüche in diesen Büchern beweisen zweierlei:


Erstens konnten die Autoren nicht Augen- und Ohrenzeugen der Begebnisse gewesen sein, die sie

beschreiben. Andernfalls hätten sie diese nicht so widersprüchlich wiedergegeben. Demnach konnten

es also keine Apostel gewesen sein, von denen man ja annehmen muß, daß sie unmittelbare Zeugen

waren.


Zweitens handelten die Verfasser, wer immer sie waren, nicht im Stile eines abgekarteten Betruges,

sondern jeder für sich und ohne Wissen um die übrigen drei.


Es ist ein und derselbe Beweis, der beide Fälle zu belegen hilft: Nämlich daß es sich weder um Apostel

handeln kann, noch, daß die vier in gemeinsamer Absprache gelogen haben. Inspiration kommt schon

gar nicht in Frage - genauso gut könnten wir versuchen, Wahrheit mit Lüge in Einklang zu setzen, oder

Inspiration mit Widerspruch.


Wenn vier Menschen Augen- und Ohrenzeugen einer Szene sind, ist keine Absprache nötig, um unter

ihnen Übereinstimmung darüber herzustellen, wo und wann diese Szene stattgefunden hat. Ihr

persönliches Wissen um die Sache, das jeder von ihnen für sich besitzt, macht eine solche Abstimmung

völlig unnötig. Es wird nicht einer von ihnen behaupten, sie hätte am Land in den Bergen stattgefunden,

während ein anderer darauf besteht, alles hätte sich in einem Haus in der Stadt ereignet. Es wird nicht

der eine vom Sonnenaufgang sprechen, während der andere sagt, es habe völlige Dunkelheit geherrscht.

Wo und wann immer sie stattgefunden hat, sie wissen alle gleichermaßen darüber bescheid.


Wenn andererseits vier Menschen in gemeinsamer Absprache eine Geschichte erfinden, dann werden sie

wohl dafür Sorge tragen, daß die verschiedenen Berichte übereinstimmen und sich zu einem schlüssigen

Ganzen fügen. Diese Absprache ersetzt den Mangel an Wahrheit im einen Fall, während im anderen Fall

das Wissen um die Wahrheit eine Absprache unnötig macht.


Mithin beweisen dieselben Widersprüche, mithilfe derer man sieht, daß keine Absprache stattgefunden hat,

auch den Umstand, daß die Berichterstatter keine Ahnung von den wirklichen Begebenheiten gehabt haben

konnten, die sie als Tatsachen auftischen. Damit ist belegt, daß diese Berichte falsch sind. Die hier

besprochenen Bücher sind also weder von den Aposteln geschrieben worden noch von Betrügern in

gemeinsamer Absprache. Von wem aber stammen sie dann?


Ich bin kein großer Freund des Glaubens an eine vorsätzliche Lüge, ausgenommen bei den Männern, die sich

dem Geschäft der Propheterei hingegeben haben, wie wir das im Alten Testament gesehen haben:

Prophezeien ist professionelles Lügen. In beinahe allen anderen Fällen ist es nicht schwer, den Weg einer

einfachen Vermutung zur Lüge unter Zuhilfenahme der Gutgläubigkeit auszumachen - einer Lüge, die

zu guter Letzt als Tatsache berichtet wird. Wann immer wir einen wohltätigen Grund für diesen Umstand

finden können, sollten wir nicht das Schlimmste annehmen.


Die Geschichte vom Auftauchen Jesu Christi nach seinem Tod ist die Geschichte einer Erscheinung, wie sie

furchtsame Seelen stets vermittels Visionen erschaffen können und die von der Leichtgläubigkeit rasch

aufgeschnappt werden. Ähnliche Geschichten waren wenige Jahre zuvor nach der Ermordung von Julius

Caesar im Schwange: Sie nehmen ihren Ausgang in brutalen Morden oder der Hinrichtung Unschuldiger.


In solchen Fällen hilft uns unser Mitleid und bläst die Geschichte in wohlwollender Weise auf. Sie wird

weitererzählt und weitererzählt, bis sie zu einer sicheren Wahrheit geworden ist. Man versuche nur einmal,

einen Geist zu erfinden - die Leichtgläubigkeit der Menschen wird in Bälde einen Lebenslauf und die

Ursache für sein Erscheinen bereitstellen. Der eine erzählt seine Geschichte auf die eine Weise, ein

anderer auf eine zweite, bis es so viele Versionen der Geschichte gibt wie über Jesus Christus in besagten

vier Büchern.

 


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12•11