Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#91)

 

Kapitel III

 

 

Konklusion (d)


Ich selbst halte nichts von dieser Doktrin, sie enthält eine in meinen Augen falsche und lediglich märchenhafte Sittlichkeit.

Und doch gibt es den Menschen nicht, der behaupten könnte, ich hätte ihn verfolgt. Kein Mensch kann das sagen, keine

Gesellschaft, weder die der amerikanischen, noch die der französischen Revolution. Niemals habe ich Böses mit Bösem

vergolten. Aber kein Mensch ist verpflichtet, Böses mit Gutem abzugelten. Wenn das doch geschieht, dann auf Basis

einer freiwilligen Entscheidung, nicht aufgrund einer Pflicht.


Es ist auch absurd, anzunehmen, eine solche Lehre könnte Teil einer geoffenbarten Religion sein. Wir ahmen die Moralität

des Schöpfers nach, indem wir Nachsicht mit unseren Mitmenschen üben, so wie er mit uns allen Nachsicht übt. Aber die

angesprochene Glaubenslehre würde unterstellen, daß Gott die Menschen nicht umso mehr liebt, je besser sie sind, sondern

im Gegenteil umso mehr, je bösartiger sie sind.


Betrachten wir unsere conditio humana auf dieser Welt, so müssen wir erkennen, daß so etwas wie eine geoffenbarte Religion

völlig unnötig ist. Was möchten wir denn wissen? Predigt nicht die Schöpfung und das uns sichtbare Universum ausreichend

über jene umfassende Macht, die das Ganze regiert und reguliert? Und ist nicht das Beweismaterial, das sich unseren Sinnen

in dieser Schöpfung darbietet, unendlich viel besser als alles, was wir in irgendwelchen Büchern von irgendwelchen Schwindlern

lesen können, die ihre Werke dann als das Wort Gottes ausgeben? Und was die Sittlichkeit anlangt - sie existiert im Gewissen

jedes Menschen.


Also: Die Existenz einer allmächtigen Kraft wird uns ausreichend bewiesen, obschon wir nicht begreifen können (und auch

unmöglicherweise begreifen sollen), wie sie aussieht, was ihre Eigenschaften sind. Wir verstehen nicht, wie wir auf die Welt

gekommen sind - aber wir wissen, daß wir hier sind.


Folglich müssen wir auch annehmen, daß jene Macht, die uns geschaffen hat, uns jederzeit und ganz wie es ihr gefällt für unser

Leben hier zur Rechenschaft ziehen kann. Ohne weiter nach einem Motiv für diesen Glauben zu suchen, scheint es vernünftig,

anzunehmen, daß jene Macht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wird, da wir ihr schon die Möglichkeit dazu zugestanden haben.

Die Wahrscheinlichkeit, die Möglichkeit dazu ist alles, was wir wissen müssen. Wären wir unserer Sache sicher, lebten wir ja

als reine Sklaven unserer Ängstlichkeit. Unser Glaube hätte überhaupt keinen Wert, und unsere besten Taten wären keine Tugend.


Der Deismus lehrt uns folglich und ganz ohne die Möglichkeit zur Täuschung alles, was wir wissen müssen und sollen. Die Schöpfung

ist die Bibel des Deisten. In ihr liest er, in der Handschrift des Schöpfers selbst, und gewinnt daraus die Gewißheit seiner Existenz

und die Unabänderlichkeit seiner Macht: Alle anderen Alten oder Neuen Testamente sind nichts als Fälschungen für ihn.


Für alle, die des Denkens fähig sind, wird die Möglichkeit, irgendwann einmal zur Verantwortung gezogen zu werden, die Stelle

eines Glaubens einnehmen. Der Glaube oder Unglaube selbst kann das Faktum dieser Möglichkeit ja nicht außer Kraft setzen.

Da wir in unserem menschlichen Dasein frei handeln, wie es ja auch sein soll, kann wohl nur ein Narr so leben, als gäbe es keinen

Gott: Einem Philosophen oder klugen Menschen wird das nicht passieren.

 


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24•11