17. März 2011

Ein wenig triviale Zahlenmagie. Durch dieses Blatt sind nun 1.700 Tage mit Kommentaren versehen. Es erweist sich für mich längst als eine Art "virtuelles Exoskelett"; dieses laufende Schreiben entlang der Ereignisse, in einem subjektiven Ausschöpfen meiner Wahrnehmungen.

Dieses Logbuch als ein Mittel der Selbstvergewisserung, als Angelpunkt einer webgestützten Telepräsenz ... Und da ist ein Schrecken in Fukushima. Ich denke, wir sprechen nicht einmal diese Namen richtig aus, aber wir sind nun alle "solidarisch mit Japan"?

Ich staune, wie passend Reaktionen zu einer bestimmten Art der medialen Berichterstattung hochgehen. Und! Wenn ich bloß wüßte, wie das gehen soll, mit einem Land solidarisch zu sein. Nebenbei: Ist dieses Gebrüll aus Mitleid nicht das Echo jenes lähmenden Mangels an Partizipation am öffentlichen politischen Leben, das uns Enkel und Urenkel von Untertanen so stark ausmacht?

Aber das läßt sich mit Japan ohnehin nicht vergleichen. Dessen Historie, politische und kulturelle Konventionen unterscheiden sich zu sehr von allem, was mit vertraut erscheint. Nein, mit dem Land bin ich keineswegs solidarisch, denn "Das Land" zeigt seit Jahrzehnten zu viele Seiten, die mir erheblich mißfallen. Aber die Menschen? Ich meine: Die Leidenden? Ja. Davon ahne ich etwas. Einiges.

Heuchelei finde ich abstoßend. Das ist alles so weit weg. Aber es steht mutmaßlich auch stellvertretend für Bedrohungen, die direkt neben uns hocken. Vielleicht ist das so einladend. Nach dem Fernen zu brüllen, weil das Nahe zu viel Unruhe in unsere Tage brächte.

Was kann ich zulassen? Ich kann es nicht andauernd an mich heranlassen, sonst schaffe ich meine Tage nicht. Manches überfällt mich aber; gelegentlich, in Augenblicken, wo ich noch jedes Mal einige Ratlosigkeit erfahren hab. Wie soll ich das erklären? Es ist schon vorgekommen, daß ich relativ aus dem Blauen heraus unter anderen Leuten in Tränen ausgebrochen bin, weil mich etwas umgehauen, einfach überrannt hat.

Ich kann nicht berichten, daß wir in unserer Kultur Konventionen hätten, die dem mehr als bloß Raum, irgendwie auch einen Rahmen geben. Ich kann nicht berichten, daß mich Augenzeugen solcher Momente später darauf anreden würden; nämlich auf das Thema, auf den Anlaß solcher Vorfälle.

Das aber wäre meine Wunschvorstellung. Ich will diese Buttons nicht sehen und diese kitschigen Bildchen, die von "Lichtmediationen" und anderen Kuriositäten erzählen. Ich möchte die eigentlichen Emotionen sehen und erleben dürfen. Das, was einen erschüttert und sich so auch im Leib ausdrückt.

Ich möchte, daß wir Erfahrungen sammeln dürfen, wie das in Gegenwart anderer Menschen stattfinden mag und was es an Folgen haben darf. Dafür verzichte ich gerne auf Betroffenheitsgymnastik und daß sich eigene Ratlosigkeit, vielleicht auch Furcht, als Sozialkitsch in alle Winkel meines Alltags drückt.

Freilich möchte ich auf den medialen Bereich nicht verzichten. Eine professionelle Berichterstattung, die voyeuristische Positionen meidet, von Leuten, die ihr Handwerk verstehen.

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Und Kommentare von Leuten, die bei Sinnen sind. Ein Beispiel: Autor Adolf Muschg sagte über die Welt in einem Interview: "die Katastrophe hat sie zur Kenntlichkeit entstellt".

>>Man kann nicht sicherer mit Atomkraft umgehen als die Japaner - das heißt, man kann gar nicht mit ihr umgehen. Aber die Japaner zahlen einen schrecklichen Preis für diese Einsicht. Es ist kein Trost, dass sie es gefasster tun als jedes andere Volk dieser Welt. Die Nachricht - auch wenn sie noch so schonend kommuniziert wird - lautet: In Fukushima ist das Unvorstellbare eingetreten, und die Welt muss danach handeln. Sie ist in diesem März 2011 eine andere geworden - die Katastrophe hat sie zur Kenntlichkeit entstellt.<< [Quelle: Der Standard]

 

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