27. Juli 2011

Letztes Wochenende kam ich an einem unbebauten Grundstück vorbei, das zum Gehsteig hin von einem schlichten Maschendrahtzaun abgegrenzt ist. Zwei schwenkbare Flügel im Zaun machen die Zufahrt möglich. Das Terrain wirkt in seinem ungemähten Zustand wie eine Wartestellung für diese oder jene Zukunft.

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Dort steht ein Sessel, der ganz offensichtlich nicht in die Kategorie Gartenmöbel fällt. Warum kann ich an so einem Motiv nicht einfach vorbei? Bei mir löst so ein Motiv Assoziationsketten aus. Damit werde ich nicht der Einzige sein, dem es so geht.

Ich halte uns für sinnsüchtige Wesen, für Deutungs-Junkies. Ich stelle mir vor, dies sei eine Besonderheit der Spezies. Eine völlig banale Situation, ein ungemähtes Grundstück, wuchernde Stauden und Ranken, ein Stapelsessel, ein bestimmter Bildausschnitt, und schon kann ich eine Flut von Deutungen ausschütten, die sich aus Reaktionen auf Erinnerungen und Erfahrungen ergeben.

Es gibt vermutlich kaum ein menschlisches Tun, wo diese Möglichkeiten so weitreichend und radikal in Gang gebracht werden, wie in der Befassung mit Kunst. (Das Spielen gehört wohl auch zu diesen Möglichkeiten.) Der Verstand und die Sinne finden Anlaß, all ihre Optionen auszuspielen, mit einander zu verknüpfen, gegen einander in Wirkung zu bringen.

Wir Menschen bleiben in diesen Fähigkeiten undurchschaubar. Zu viel, zu widersprüchlich, zu irritierend sind die Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, die konkreten und abstrakten Momente, die aussprechbaren und unaussprechlichen Aspekte, welche mit einander zur Wirkung kommen. Und dennoch ist es nichts, was uns den Kopf sprengen würde, sondern -- ganz im Gegenteil -- ein teils bearbeiteter, teils ungemähter "Garten", ein ewiges Neuland, das uns einlädt, die heranwachsenden Beschränktheiten unser Lebensalltage stets wieder zu überwinden, zu verlassen.

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Genau die selben Potenziale machen freilich auch Privatmythologien mit furchterregenden Konsequenzen möglich. Diese Textpassage findet sich auf Seite 14 der "Europäischen Unabhängigkeitserklärung" des Andrew Berwick alias Anders Behring Breivik. Wie kurios, daß er die Auffassung vertritt, "Political Correctness" würde Medienwelt und Unterhaltungsindustrie dominieren, wo doch genau das Gegenteil der Fall ist.

Mögliche Gegenprobe: Eine Woche Querschnittbetrachtung von Leserbriefseiten auf dem Boulevard plus ein kleiner Check auf "Facebook", was dort an Lieblingsfilmen und Lieblingsspielen genannt wird. Da dominiert dann genau die Sorte des rachsüchtigen Gewalttäters, der sich als "soldatischer Mann" inszeniert, wie das im späten 19. Jahrhundert sich verdichtete, um zu jenen "Schwarzen Korps" und ähnlichen Männerbünden zu führen, denen wir schließlich nicht nur den Holocaust verdanken.

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Was von Breiviks "Facebook"-Präsenz erhalten blieb, bietet eine bloß bescheidene Auswahl. Wie Adolf Hitler hat er offenbar eine verklärtes Faible für das Imperium Romanum und überhaupt die Antike, sowie daraus abgeleitete Reichs-Klischees. Also stapfen harte Burschen mit strammen Waden durch seine Phantasien.

Großes Sandalenkino; wobei der "Gladiator" als sehr professionell inszenierte Machismo- Operette höchst unterhaltsam ist und letztlich als fast weinerliches Rührstück daherkommt, während "300" eigentlich nur als protofaschistischer Dreck durchgeht, der ungeschminkt zeigt, was "Ästhetisierung von Gewalt" meint. (Lars von Triers "Dogville" fällt hier markant aus dem Rahmen.)

Der "soldatischer Mann" ist natürlich Waffenträger und Waffenkenner. Auf Seite 852 behandelt Berwick/Breivik das Thema "Optimal equipment for urban operations" und listete unter "Offensive/defensive weapons" eine "HK416 assault rifle with redpoint optics (4 extra long clips)" [link] und "Alternatively: any assault rifle (AK 47 etc.). Try to aquire a modern weapon with antirecoil functionality" sowie eine österreichische "Glock handgun with silencer and laser (2-4 extra long clips)".

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HK G3 (Creative Commons: Quickload at en.wikipedia)

Die HK416 dürfte für gewöhnliche Kriminelle auf dem Schwarzmarkt nicht zu bekommen sein. Also wurde es das etwas konventionellere HK G3 in norwegischer Lizenz. Quentin Tarantino hat übrigens in "Jackie Brown" auf sehr ironische Art thematisiert, daß Funktion alleine beim Schwarzhandel mit Waffen nicht entscheidend ist. Spielfilme haben da, so Ordell Robbie (Samuel L. Jackson) in diesem Streifen, großen Einfluß auf die Wünsche der Kundschaft. Inszenierung!

Aber ich schweife ja völlig ab. Eigentlich hat mich der Auftakt dieser Notiz beschäftigt, weil es in meiner Umgebung nur so summt, was Ferndiagnosen und psychologische Befunde angeht. Was bewegte den Täter von Oslo und Utøya? Wie tickt der? Na, wer will das wissen?

Ich neige zur Ansicht, daß wir bei solchen Vorfällen gerne den Fokus falsch einstellen. "Erkläre mir das Monster" ist natürlich ein Programm, das mich auch reizt. Außerdem müssen wir, da wir meiner Meinung nach sinnsüchtige Wesen sind, der Vorstellung entkommen können, daß solche Vorfälle a) völlig sinnlos sind und b) Motive haben, die uns unergründlich bleiben.

Ich vermute allerdings, daß es genau darauf hinausläuft, weil die Privatmythologie, vielleicht: Das Wahnsystem, eines einzelnen Menschen uns bloß eine Klarheit anbietet. Daß nämlich die Conditio humana einen erschreckend weit gesteckten Rahmen hat. Und der -- blöde Geschichte! -- schließt uns alle mit ein.

Mich interessiert demnach an all dem viel mehr, was an Common Sense und uns vertrauter "Normalität" an die Realität solcher Menschen heranreicht. Wie weit reicht das, was wir noch verläßlich teilen, bevor sich die Wege gabeln?

 

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