14. September 2011

Wie viel an Klarheiten ist erträglich? Wie viel an Konfusion ist notwendig? Was von meiner Biografie in Schubladen abgelegt ist, sorgt gelegentlich für ein irritierendes Rumoren in den Archiven.

Wer fragt, was diese Archive seien, würde als Antwort hören: Mein Leib und mein Leben. Der Leib zeigt, was ihm alles widerfahren ist, das Leben ist auch das Museum seiner selbst. Keine Sorge, es geht gleich viel banaler weiter. Ich habe heute keinen Hang zur Philosophie. Verkommenes Wörtchen! Denn wer heute eine Meinung hat, eine Ansicht, eine Vorstellung, wohin es langgehen könnte, der oder die hat eine "Philosophie"; nämlich: "Meine Philosophie".

Dabei bleibt mir vollkommen rätselhaft, wie man eine Philosophie haben könne und was genau man hat, wenn man eine Philosophie hat. Wie angedeutet, ich stecke eigentlich in banaleren Fragen. Etwa, wo denn früher der Mühlgang im Bereich 8010 Graz verlaufen sei.

log1772a.jpg (36047 Byte)

Dabei bin ich in der Suche von der Rottalmühle ausgegangen, weil ich als Kind dort noch eine Turbine in Betrieb gesehen hab; die Mühlgänge zu beiden Seiten der Mur sind wichtige Kraftquellen für die Wirtschaftstreibenden gewesen. Ein älterer Herr, dem meine Sucherei aufgefallen war, wies mir den Weg. Er kannte einige Details. Nahe dem Schloßbergkai verlief der Mühlgang unter anderen auf diesem markanten Terrain zwischen Straße und Gehsteig.

Ich krame zur Zeit in der Welt von De Dion-Bouton und Darracq-Leon Bollée herum, also etwa im Jahre 1900, wo in einschlägigen Magazinen solche Headlines vorkamen: "Jagd nach einem Autowildling" oder "Über das Verhalten des Automobilisten gegenüber Pferden".

Inzwischen habe ich nicht den geringsten Zweifel, daß rund 100 Jahre Massenmotorisierung zu einer merkwürdigen Verknüpfung von Männerkultur, Kriegs-Inszenierungen und sozialen Hierarchien geführt hat. Diese Maschinchen sind mit so enormem materiellen Einsatz ideologisch aufgeladen worden, das übersteigt alltägliche Vorstellungen bei weitem.

log1772b.jpg (23794 Byte)

Es begann mit derart harmlos wirkenden Konstruktionen. Dieses Tricycle "Darracq-Perfecta" wurde 1900 in vier Ausführungen beworben, mit 2¼ HP bis 5 HP-Motoren. Davor haben sportliche Herrschaften noch ohne Motorverstärkung auf derlei Vehikeln die Kurven gekratzt.

log1772c.jpg (18772 Byte)

Die Streifzüge durch eine Stadt offenbaren zwischendurch launige Nachrichten. Oft aber bin ich unterm Schauen in Gedanken versunken und lande bei ganz anderen Geschichten. Meine Balkanfahrten haben gewöhnlich Nachwirkungen über mehrere Wochen.

log1772d.jpg (20813 Byte)

Ich hatte eben erst auf der Brücke über die Drina gestanden, so heißt auch der grundlegende Roman von Ivo Andric, im Original "Na Drini cuprija", und ich kapier einfach nicht, was der Unterschied zwischen "most" und "cuprija" ist. Auch die "Lateinerbrücke" in Sarajevo, nahe der Gavrilo Princip auf das österreichische Thronfolger-Ehepaar geschossen hat, ist nicht "most" sondern "cuprija", nämlich "latinska cuprija".

Aber nicht so sicher, denn ein nahestehendes Hotel heißt "latinski most". Das sind die bei weitem harmlosesten Verwirrungen, an denen ich gelegentlich laviere, wenn ich unter den südslawischen Leuten bin. Wie wäre es damit? Das jüdische Mädel hat einen bosnischen Moslem geheiratet. Zum Glück innerhalb von Familien, die damit zurechtkamen. Zumal er weniger Moslem, vor allem Kommunist war. Und daß er Deutsch konnte, wußten sie alle nicht. Viele Jahre. Wie es dazu gekommen war? Er hatte Arabisch lernen müssen, war schließlich im nahen Umfeld von Tito tätig gewesen. Zu seiner Zeit sind dafür aber nur deutsche Lehrbücher verfügbar gewesen, weshalb er den Umweg zum Arabischen über diese Sprache nahm.

Wie viele Jahre befasse ich mich nun mit Südosteuropa? Wenn mir heute darüber etwas mit Sicherheit klar ist, dann das: Ich kann nie mit Sicherheit annehmen, daß mir an diesen Leuten etwas klar geworden ist. Ich denke, darin liegt ein großer Reiz, den diese Region und ihre Menschen auf mich ausüben.

 

[kontakt] [reset] [krusche]
37•11