26. Mai 2015

Ich hab gestern angedeutet, wie sehr es mir mißfällt, daß seit Jahren zunehmend (und möglicherweise lieber als davor) von "Werten" geredet wird; und zwar auf eine Art, als hätte schon wieder jemand Steintafeln von einem Berg heruntergebracht, da stünden sie nun, eingemeißelt, die Werte. Viel Raunen, allerhand Andeutungen, wenig Konkretes.

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Notfalls wird dann noch gerne von der "traditionellen Famlie" gesprochen. Das ist der populärste Joker in halbseidenen Debatten. Ich erbitte in dem Fall gerne, man möge doch in den Geschichtsbüchern nachschlagen, um mir zu zeigen, ab wann denn wenigstens 60 bis 70 Prozent der Kinder unseres Landes in aufrechter Ehe geboren wurden. Da zeigt sich nämlich schnell, daß die Tradition der "traditionellen Famlie" eher jung ist.

In den letzten Jahren erleben wir die Kuriosität, daß offenbar vor allem Muslime, die mancherorts Anlaß sind, in Aufmärschen das Abendland retten zu wollen, daß also Muslime, was nun "traditionelle Familie" und "traditionelle Werte" angeht, vielfach wesentlich konsequenter leben, als es dem abendländischen Werte-Personal gelingt.

Nun bin ich selbst ein stellenweise ziemlich sturer Mensch, was ethische Konzepte angeht, vielleicht sogar ein Moralist, solche Debatten interessieren mich daher jederzeit. Deshalb hat mich der gestern erwähnte Althistoriker Egon Flaig mit der Formulierung "Landmarken für die westlich-europäische Kultur" erreicht.

Er betonte die Notwendigkeit von moralischen und politischen Maßstäben, die wir ja nur dann definieren und verhandeln können, wenn wir über ein kulturelles Gedächtnis verfügen. Die verwendete Quelle: [link]

Flaig erwähnt fast beiläufig, diese Wegmarken (mir gefiele auch: Qualitäten) seien universalisierbar. Ich fürchte, unsere eurozentristische Arroganz, die heute kaum noch thematisiert wird, die sich auch, wie mir scheint, im Lauf der Dinge ohnehin zur Fußnote entwickelt, verleitet viele von uns zu einem grundlegenden Trugschluß.

Bloß weil diese Qualitäten universalisierbar sind, heißt das noch nicht, sie seien auch universell. Das wäre so ein Beispiel für den Unterschied zwischen virtuell und aktuell, zwischen möglich und schon eingetroffen.

Ich meine, unsere eurozentristische Arroganz wird zur Fußnote, weil das Europa, welches sich einst zur Kolonialmacht aufschwang, um die Welt unter seinen Fürsten aufzuteilen, weil dieses Europa selbst zügig zur Fußnote wird, in der nicht einmal eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik notiert ist.

Jetzt sollte ich den Fokus verkleinern und in der weiteren Erörterung meine Umgebung meinen, nicht mein Land, nicht Europa, aber die Milieus, mit denen ich zu tun habe. Da herrscht eine verblüffende Gewißheit vor, daß unsere Konzepte vorrangig seien, obwohl ich selbst in engsten Kreisen keinesfalls eine durchgängige ethische Konzeption finden kann, die uns einigermaßen verläßlich gegen Lüge und Heuchelei absichert.

Wenn ich in den letzten wenigstens zehn Jahren so viel mehr von den "Werten des Abendlandes" krähen gehört habe, da waren von Politik bis Pöbel alle Felder beteiligt, dann deute ich das heute als den Ausdruck einer wachsenden Unsicherheit über die eigenen Prinzipien und deren praktischer Anwendung.

All die Moraltrompeterei, wie sie speziell in Vorwahlzeiten laut wird, das erleben wir heuer innerhalb von bloß wenigen Monaten gerade zum zweiten Mal, läßt mich nur noch sicherer annehmen, daß wir zu unseren angeblichen Werten ein sehr schlechtes Verhältnis bekommen haben.

Eine der härtesten Erschütterungen westlicher Ansichten sehe ich in den Bildern und Botschaften, die uns von einem orthodoxen Islam erreichen. Wer hätte eben noch gedacht, daß Al-Kaida an Brutalität und Sendungsbewußtsein übertroffen werden könnte?

Was mir aktuelle Dokumentationen zeigen, läßt die Rädelsführer des Islamischen Staates gegenüber Andersdenkenden so totalitär auftreten, wie es unsere Nazi den Juden gegenüber taten.

Diese Männer sind anscheinend ideologisch schon gewappnet, notfalls Millionen von Menschen zu töten, Muslime, die ihnen nicht rechtgläubig erscheinen, und alle Kuffar, also Ungläubige, Gottesleugner.

Ich habe eben erst, als ich mir einige Predigten mit englischen Untertiteln ansah, den Begriff Kufr kennengelernt. Das Wort bezeichnet die Ablehnung des Glaubens an Allah. Wir erleben aus sicherem Abstand einen Religionskrieg, der von Muslimen gegen Muslime und Kuffar geführt wird, von dem niemand sagen kann, wie weit und wie lange er tragen mag.

Es ist völlig müßig, über die IS-Horden zu räsonieren, denn ihre Orientierung ist offensichtlich nicht verhandelbar. Wir können aber auf jeden Fall darüber nachdenken, was Westeuropa über Jahrzehnte alles geleistet hat, um ein Klima zu schaffen, aus dem heraus vor allem sehr junge Menschen zu Konvertiten werden und sich dem IS anschließen.

Ich nehme an, wir sollten neu klären, worin unser vertrautes Gesellschaftsmodell Qualitäten zeigt, die anderen überlegen sein sollen, und inwiefern es eben nur eines unter mehreren Gesellschaftsmodellen auf der Welt sein kann, ferner, was das alles für unsere kollektive Lebenspraxis bedeutet, die sich in so krisenhaften Zeiten konkret bewähren sollte, statt bloß behauptet zu werden.

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