3. November 2016

Heimat und Vaterland... Das eine (Heimat) ist mutmaßlich aus individueller Erfahrung ableitbar, das andere (Vaterland) viel eher das Produkt von Propaganda, an der sich einst staatliche Stellen, Kirche und Medienleute beteiligten.

Napoleon hatte die Fürsten Europas in Aufruhr gebracht und eine Ära der Volksarmeen eingeleitet. Dazu mußte ideologisch aufgerüstet werden. Ich vermute, man wird vor dieser Zeit kaum Quellen finden, die "Das Vaterland" in solcher Art deuten, wie wir das heute kennen.

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Wäre es bloß Totengedenken, aber die Inszenierung spricht
von "Heldenverehrung"

Es gab in Europa häufig Dichter, die sich mit Nationalkitsch hervortaten. Andere wurden eher ideologisch vereinnahmt. Ein frühes Beispiel. Das "Dulce et decorum est pro patria mori." von Horaz, dieses "Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.", wird eigentlich nicht als Heldenpropaganda, sondern als ein Nachdenken über Stoiker und Epikureer gedeutet. Reißt man es aus dem Zusammenhang, kann man damit jede Schlamperei anstellen.

Die Praxis sah ohnehin anders aus. Wer auf Schlachtfeldern des Großen Krieges überlebt hatte, mußte eine staunenswerte Indoktrinierung erfahren haben, um seinem Kaiser noch mit ausreichendem Patriotismus anzuhängen. Das hohe Level von Zensur, sei es bei Zeitschriften, sei es bei Feldpostbriefen, belegt eher, daß sich die Herrschaft dieses Patriotismus' nicht so sicher war.

Das war auch in anderen Nationen Standard. Ein Beispiel. Der britische Dichter Wilfred Owen schrieb sein "Dulce et decorum" Ende 1917, die Publikation im Jahr 1920 erlebte er nicht mehr. Der Text endet mit der Passage:

My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori.

Die Erfahrungen jener Ära, in technisch hochgerüsteten Kriegen zu überleben, waren derart traumatisierend, daß die Spuren der Traumata bis in unsere Gegenwart reichen. Ich finde sehr anschaulich, was Folksänger Eric Bogle 1971 publizierte. Ein Lied, das an die Schlachten gegen die Osmanen rund um Gallipoli erinnert.

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Wo erfahre ich, wem hier welche Treue gewidmet ist?
(Das ÖSK betont "Versöhnung über den Gräbern")

In "And the Band Played Waltzing Matilda" hat der ich-Erzähler seine Beine auf dem Schlachtfeld gelassen ("...and saw what it had done, well I wished I was dead. Never knew there was worse things than dyin'."). Den Heimkehrern kam wohl kein Hurra! über die Lippen.

So they gathered the crippled, the wounded, the maimed,
and they shipped us back home to Australia.
The legless, the armless, the blind, the insane,
those proud wounded heroes of Suvla
And as our ship pulled into Circular Quay,
I looked at the place where me legs used to be.
And thanked Christ there was nobody waiting for me,
to grieve, to mourn, and to pity.

Ist es vorstellbar, daß eine natürliche menschliche Reaktion solche Erfahrungen tilgt oder umdeutet, um es immer noch wunderbar zu finden, für seinen Kaiser und sein "Vaterland" zu sterben? Ist nicht eher anzunehmen, daß ein enormer propagandistischer Einsatz, aber auch großer sozialer Druck nötig sind, um solche Vaterlands-Konzept in den Menschen zu etablieren?

Schriftsteller Rudyard Kipling hat die Konsequenzen seines vaterländischen Engagements auf berührend Art dokumentiert. Sein achtzehnjähriger Sohn blieb auf dem Schlachtfeld, welches er aus eigenem Antrieb wohl nicht aufgesucht hätte.

"Have you news of my boy Jack?"
Not this tide.
"When d'you think that he'll come back?"
Not with this wind blowing, and this tide.
"Has any one else had word of him?"
Not this tide.

Siehe dazu meinen Logbucheintrag vom 30.7.2011: [link]

Sollten wir solche Positionen (Posen?) aus heutiger Sicht relativieren? Kipling hatte den ablehnenden Bescheid der Musterungskommission übersteuert und sein Kind gegen dessen Willen in die Armee gehievt.

Ich notierte dazu: Pathos und Pathologie haben die gleiche Bedeutungswurzel. Die Leidenschaft und das Leiden liegen all dem zugrunde.

Ist es ethisch vertretbar, die Heroisierung jener Toten an den Tafeln unseren Denkmäler fortzuschreiben? Hätten sie nicht posthum einen Anspruch auf schlichte Gerechtigkeit, endlich als jenes bedeutungsloses Personal von Aristokraten gelten zu dürfen, das für eine sehr fragwürdige Konstruktion von "Vaterland" mißbraucht wurde?

Was zwingt uns, die menschenverachtenden ideologischen Konstruktionen jener alten Eliten fortzuschreiben?

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Mein Großvater Richard hat nie über seine Kriegserfahrungen gesprochen. Mein Vater Hubert nur sehr gefiltert.

Einige meiner Fragen lauten: Warum, wozu, weshalb hätten die Bauern und Knechte in den Krieg ziehen sollen, ihre Frauen, Kinder und Alten mit den Landwirtschaften und dem harten Leben allein zurücklassen, Leib und Leben zu riskieren, erhebliche Qualen sowieso?

Wieso sollten all die anderen Leute von Stadt und Land, die breite Bevölkerung, deren harte Arbeit kaum mehr als das Nötigste zum Leben erbrachte, sich aus freien Stücken solchen Feldzügen anschließen? Was genau war für sie dabei zu gewinnen? Mildere Herrschaft? Geringere Fron? Besseres Leben?

Was hätten sie denn anderes wünschen können, als in ihrer Heimat zu bleiben? Und das meint nicht ganz Österreich, also das „Vaterland", sondern nur das angestammte und vertraute Gebiet, jene Region, wo ihnen irgendetwas vertraut erschien.

Wie hätte Österreich, das Vaterland, das ganze Imperium, das Haus Habsburg, den Bauern, Keuschlern, Kleinhäuslern und all den Dienstboten, Arbeiterinnen und Arbeitern Heimat sein können? dafür war es zu groß. So groß ist Heimat nicht.

Sie wußten doch weder die Sprachen der verschiedenen Provinzen zu sprechen, noch die Sprache ihrer Herrscher. Sie konnten am kulturellen Leben der "gebildeten Leute" nicht teilnehmen. Sie hatten wenig bis keine Freizeit. Das Leben war für die meisten unserer Leute eine endlose Schufterei.

Der Lauf der Zeit belegte unübersehbar, um als Volk in Frieden und Wohlstand zu leben, mußten wir die Habsburger und die Nazi loswerden. Wir mußten Abstand zu ihren Wasserträgern und Speichelleckern bekommen, die ihnen das "Vaterland" für ihren Pöbel zurechtgeschrieben haben.

Wie viele Dichter, Journalisten, Dorfschullehrer  und Priester hatten sich in den Dienst dieser schmutzigen Propagandaarbeit gestellt, auf daß noch heute an Kirchenwänden, etwa in Gleisdorf, in obszöner Weise und leider unkommentiert von "Unseren Helden" die Rede ist?

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