7. November 2016

Die ausführliche Debatte über markante Aspekte der Mediengeschichte führte freilich auch tiefer in das Spannungsverhältnis zwischen Bild und Text. Da neben Graphic Novelist Chris Scheuer auch zwei Sammler am Tisch waren, konnten wir einiges darüber erfahren.

So bestand Konsens, daß in der klassischen Graphic Novel Text und Bild zwei verschiedene Erzählebenen sind, das eine nicht zeigt, was das andere erzählt. Es ereignet sich komplementär.

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Das ist ein Aspekt der Darstellung, der etwa von breiten Kreisen des publizistichen Personals in der Region nicht beherrscht wird. Da erklärt mir die Bildunterschrift sehr häufig, was ich ohnehin sehe, unterschlägt aber dafür andere Details.

Noch drastischer sind dabei die endlosen Fotogalerien auf den Websites mancher Journale, bei denen auf Bildunterschriften völlig verzichtet wird. Es wissen dann bloß noch jene, die auf den Fotos zu sehen sind, wer auf den Fotos zu sehen ist.

Das löst sich alles in der neuen Mediensituation stellenweise zu sehr diffusen Situationen auf. Stichwort Echokammer und Info-Blase. Wenn der Internet-Browser mir die Auswahl von Suchergebnissen vorgibt, weil mein Online-Verhalten von der Software verfolgt wird (Cookies), wenn ich hauptsächlich die Stoffe von Gleichgesinnten vorgelegt bekomme, verflacht zwangsläufig meine Weltsicht.

Die Kulturpolitik zeigt mir diesbezüglich in der Region noch so gut wie keine Reaktionen. (Aber da beginnt an manchen Ecken etwas.) Die Kulturschaffenden finde ich auch noch kaum damit befaßt. Hier sind die Themen Medienkompetenzen und Netzkultur berührt.

Netzkultur | Medienkompetenz [link]

Zurück zur Graphic Novel, die Scheuer betont, während er sagt, "Comix" sei kein Genre. "Comic-Heftl" hat sich allerdings als ein Begriff etabliert, der eben auf Bildgeschichten verweist, auf alle Arten von Bildgeschichten. Ein praktisches Beispiel für die alte Dichotomie a) breiter Publikumsgeschmack und b) erlesene Kennerschaft.

Dem allgemeinen Publikum genügt der eine Überbegriff, da werden bestenfalls noch Karikaturen als etwas anderes unterschieden. Erfahrenen Liebhabern des Themas steht ein wesentlich differenzierteres Bild zur Verfügung.

Es scheint mir ein wenig so, wie wenn ich meinen Sohn müde lächeln sehe, da er die musikalische Metal-Kultur mit ihren vielen Richtungen, Nuancen, Abteilungen kennt, während ich meine Teenagerzeit mit Hardrock und Heavy Metal verbracht habe.

Mehr Genres und mehr  Begriffe hatten wir nicht. Was ich als Heavy Metal erfuhr, ist für ihn eher laue Kaufhausmusik. (Werden wir in einigen Jahrzehnten Gruppen wie Bring Me the Horizon im Lift oder im Restaurant hören?)

Aber zurück zu den Text-Bild-Relationen. In einer Zeit, da Literarität noch kein Massenphänomen war, wurden weite Bevölkerungsteile mit Bildern informiert. Kircheninventar, Kreuzwege, Bildstöcke, Grabmäler, das reiche Spektrum an alten visuellen Codes können wir heute noch vorfinden.

Dagegen sind die "Armenbibeln" in Museen und Panzerschränken verschwunden. Eine Biblia pauperum als fast unbezahlbares Artefakt, kostbare Blockbücher, Flugblätte und Gebetszettel...

Seit ich über derlei Dinge nachdenke, staune ich, daß die Protestanten Menschen dazu bringen wollten, die Bibel selbst zu lesen, während die Katholiken keinen vergleichbaren Ehrgeiz zeigten, die individuelle Lesekundigkeit der Menschen zu steigern.

Ist das mit einigen Aspekten der gegenwärtigen Mediensituation vergleichbar? Ich habe erst jüngst erlebt, wie mir eine lokale Redakteurin die Welt erklärte.

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Blatt aus Salzburger Armenbibel
aus dem Jahr 1280

Dazu hatte sie mir einen detaillierteren Bericht auf die Fläche einer Zigarettenschachtel heruntergekürzt und die Hälfte des Textes durch beliebige Floskeln ersetzt, die auf fast jede Art von Veranstaltung anwendbar ist, ohne daß man dort gewesen sein muß.

Die Frau erklärte mir, das müsse so sein, das habe sie im Studium gelernt etc. (Es wurde das Ende unserer Zusammenarbeit.) Klar, die Aufmerksamkeitsspanne des werten Publikums reicht gewöhnlich nicht für ein Textvolumen wie auch dieses hier.

Unsere Debatte handelte unter anderem von der Tendenz, daß sich breite Publikumskreise nach der Lektüre von Headlines schon informiert fühlen. In aktuellen politischen Kontroversen konnte ich jüngst genauer ausloten, wie sich zum Beispiel vaterländische Leute informieren und wie sie debattieren.

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Bewährte Bilder? Ein Zitat der Kaiserhymne, ohne Doppeladler
Quelle: Facebook, "Österreich bleibt Rot Weiß Rot", 5.10.2016

Das erschöpft sich über weiten Strecken in Ensembles von Bildchen mit kurzen Slogans, ergänzt durch Floskelsätze aus einem überschaubaren Repertoire. Den Rest der Debatte füllen solche Patrioten recht flott mit der Beschimpfung von Andersdenkenden. Ich habe das heuer genauer betrachtet, es ist im Detail unter "In der Ebene: Gleisdorf" [link] nachzulesen.

Siehe zu diesem Themenbereich auch die Dokumentation der vorherigen Veranstaltung im Rahmen des 2016er Kunstsymposions: "Walking Conference: Heimat".

In der Diskussion blieb eine Frage offen stehen. Sollten wir uns engagieren, um der Lesefähigkeit wieder mehr Boden zu gewinnen? Das meint auch: Wird ein Begreifen komplexer zusammenhänge durch Lesefertigkeit, die an Texten geschult ist, vorangebracht? Oder bin ich als ausgesprochener Büchermensch ein antiquiertes Wesen? Sollte ich darauf vertrauen, daß neue Medienformen das auch leisten?

Aber WAS leisten?

Wir haben gerade erlebt, daß ein vaterländisches Bodenpersonal mit ganz simplen Bildern und Botschaften helfen kann, Wahlen zu gewinnen. Dabei dominieren Vorstellungen von Heimat, Vaterland und Europa, die in ihrer inhaltlichen Qualität gerade einmal das Niveau völkischer Diskurse vom Ende des 19. Jahrhunderts erreichen. Schlecht? Na, diese Modi haben in die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts geführt, den Ersten Weltkrieg. Das ging dann weiter, über Auschwitz nach Srebrenica.

Also WAS leisten?

Ich kenne dafür vorerst keinen schlüssigeren Vorschlag als den von Immanuel Kant bezüglich der Aufklärung. Er betonte den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Kant präzisierte: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

Es geht demnach um Selbstermächtigung durch die Fähigkeit des kritischen Denkens. Kant: "Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

Kant leistet in diesem Text weit mehr, skizziert auch, was wir als öffentlichen Diskurs im öffentlichen Raum verstehen können: "Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen."

Was er vorschlägt, ist eine redliche Meinungsbildung. Die kann ich mir gar nicht anders vorstellen als in der Form von Wissenserwerb. Das ist Arbeit, das verlangt Zeit und Zuwendung. Was dem entgegensteht, ist heute offenbar   nicht anders als es damals war.

Immanuel Kant: "Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit."

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