23. November 2016

Blicke ich auf die letzten 150 Jahre, wird das Zeitfenster recht überschaubar, wo ich nach konkreten Personen Ausschau hält. Also: 1866. Da dauerte es dann nicht mehr lange und mein Großvater Richard kam zur Welt. Er wurde ein Steinmetz mit einigem Talent zum Zimmermann. Er war ein Soldat es Kaisers und später des Tyrannen. Ich hab ihn noch persönlich kennengelernt.

Wenigstens die letzten 100 Jahre handeln in den Überschneidungen dreier Generationen von realen sozialen Begegnungen, wobei der Älteste unter ihnen, mein Großvater, von den unmittelbaren Vorbedingungen geprägt war, also zum Beispiel von den Technologieschüben der 1870er- und 80er Jahre.

Das bedeutet aber auch, wir haben bloß noch Kenntnis von den Gedanken der Menschen des 19. Jahrhunderts, soweit einigermaßen seriöse Quellen verfügbar sind, die uns deren Gedanken überliefern; falls uns in der Deutung solcher Quellen keine groben Fehler passieren. Wir leisten uns freilich derzeit recht kühne Zuschreibungen, wie diese und jene so gewesen seien und was sie gedacht hätten.

Patrioten und "Volksverräter", Christen und Muslime, gute und schlechte Österreicher, womöglich "waschechte" und "falsche", so, ja, genau so sind die...

In Debatten der jüngeren Vergangenheit habe ich über einige meiner Ansichten gründlich nachzudenken gehabt.Ich bin nach wie vor der Meinung, daß historische Fachbücher sich zwar von der Belletristik unterscheiden lassen, aber ebenso Literatur ergeben, die in ihrer Aussagekaft nicht a piori über Romanen steht.

Einerseits bleibt stets die Frage nach der Qualität von Texten offen, andrerseits befassen sich ja auch Schriftsteller mit dem Studium von Quellen und deren Deutung. Aber nun zu einem speziellen Thema.

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Kongo, Grafik: TUBS, Wiki Commons

In meiner Bibliothek gibt es etliche Bücher, deren Lektüre keine Freude bereiten. Hier ein Beispiel. Die Beschreibung von üblichen Strafmaßnahmen besagt: "Rasch und ohne Pause fällt die Peitsche, die scharfen, gezackten Enden schneiden tief ins Fleisch." Die Schilderungen lassen keinen Zweifel, daß dabei viel Blut fließt. "Jeweils hundert Peitschenhiebe lassen vier bewußtlose Körper zurück..." Daran kann jemand natürlich auch sterben.

Es wurden ferner gezielt oder beliebig ausgewählten Opfern Hände abgeschnitten, um Leute gefügig zu machen, gelegentlich auch Füße. Ein Augenzeugenbericht erzählt von einem Vater, der die Stufen eines "Lehmhauses heraufgerannt kam und vor uns die Hand und den Fuß seiner kleinen Tochter, die nicht älter als fünf Jahre hatte sein können, auf den Boden legte."

Ganze Dörfer wurden von schwer bewaffneten Formationen weggefegt, ausgelöscht. Die Frauen wurden in Lagern gefangengehalten und von den Wachmannschaften regelmäßig vergewaltigt. Auspeitschungen und Verstümmelungen galten als Bestrafungs-Standard. In einem der beschriebenen Fälle waren einem jungen Mann die "Hände mit Gewehrkolben gegen einen Baum zu blutigen Stümpfen zerquetscht worden".

Ich verzichte auf weitere Detailschilderungen aus der Arbeit von Historiker Philipp Blom. Die Anführer der Täter hatten "ein Regime des systematischen Terrors im Land etabliert", welches etwa mit der Größe Europas verglichen werden kann.

Die Rede ist hier nicht etwa von ISIS, deren Verbrechen uns die Medien in allen Facetten kolportiert haben. Die Rede ist hier von "guten Christen" im Auftrag eines Königs gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

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Die Brüder Michelin mit dem Peugeot Éclair, daran die ersten wechselbaren
Luftreifen der Automobilgeschichte

Der Bedarf an Kautschuk war gerade explodiert. Unter anderem, weil John Dunlop den luftgefüllten Gummischlauch für die Bereifung von Fahrrädern publik gemacht hatte. Ab 1890 boomte sein neues Geschäft. In der Fahrradwelt setzten sich die bis heute weitgehend baugleichen "Niederräder" durch. Motorräder und Automobile machten wenige Jahre später Furore.

Dunlop hatte 1888 das Patent für einen Fahrrad-Luftreifen erhalten. Édouard Michelin entwickelte 1891 die nächste Stufe, eine wechselbare Kombination von Schlauch und Reifen. Diese technische Lösung legte er 1894 auf Automobilräder um. 1895 erprobten die Brüder Michelin diese Neuerung an ihrem Peugeot mit dem Spitznamen Eclair beim Rennen Paris-Bordeaux und retour.

Damit änderte sich die Fahrzeugwelt. Diese Innovation hat Vollgummireifen abgelöst. Ein überraschender Geschäftsvorteil für den europäischen Kolonialherren, für König Leopold II. von Belgien. Der besaß nämlich einen Teil des Kongo als sein Privateigentum.

Der Abenteurer Henry Morton Stanley hatte für ihn Land "aufgekauft", was durch rund 450 Verträge belegt sein soll. Dazu kam, daß eine christliche Mission vorgegeben und als einer der Deckmäntel dafür benutzt wurde, um die autochthonen Menschen zu versklaven und das Land auszuplündern.

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E. D. Morel zeigte in " King Leopold’s Rule in Africa" unter
anderem die abgehackten Körperteile eines Kindes
(Quelle: Alice Harris/John Hobbis Harris, Public Domain)

Die Komfortbereifung von Fahrzeugen mit "Pneumatiks" oder "Pneus" bescherte dem belgischen König einen unbeschreiblichen Reichtum, weil die von ihm geraubten Ländereien einen großen natürlichen Bestand an Kautschukpflanzen hatten, der anderswo erst angepflanzt werden und wachsen mußte.

Das war auf einige Jahre ein extremer Marktvorteil. Es bedeutet auch, unsere Mobilitätsgeschichte ist abschnittweise von unfaßbaren Greueltaten begleitet. Keinerlei "abendländische Werte" haben die Einheimischen des Kongo vor der abenländischen Gewalttäigkeit bewahrt, über die nachzulesen einem schwer fällt, so entsetzlich was das Ausmaß der Skrupellosigkeit. Die Konsequenzen solcher Verbrechen sind natürlich bis heute wirksam.

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