20. Jänner 2018

Hörner, Reißzähne, Klauen… Da der Mensch ohne körperliche Waffen heranwächst, nehme ich an, daß er ursprünglich als ein Fluchttier zur Welt kam. Ein Wesen, dem bei Gefahr allemal Flucht die erste Option ist. Das sind wir im Grunde vermutlich bis heute, denn wer würde aus freien Stücken auf eine tödliche Bedrohung zulaufen, statt zu fliehen? (Trainierter Profis oder Menschen in Ausnahmezuständen ausgenommen.)

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In der Neusteinzeit hat der Mensch gegenüber der eigenen Art eine Gewalttätigkeit entwickelt, die es davor offenbar nicht gab. Er mag im Werkzeug- und Waffengebrauch so weit vorangekommen sein, daß sich die ursprüngliche Disposition zum Fluchttier verschoben hat, womöglich auf eine Art, die pathologische Seiten bekommen hat.

So stelle ich mir das auf jeden Fall vor und nehme an, der Homo faber habe durch die Erfahrung des Waffengebrauchs die Neigung zur Flucht ebenso kulturell überarbeitet wie die Angriffslust. Der wissenschaftliche Diskurs attestiert den damals seßhaft werden Menschen eine Brutalität, auf die uns Hinweise bei Jägern und Sammlern fehlen. Deren Lebensart war, was materielle Dinge angeht, im Jagen und Sammeln so sehr auf die Gegenwart ausgerichtet, da ist vermutlich die meiste Zeit nichts gewesen, wofür man sein Leben riskierte, um es ihnen wegzunehmen.

Daß Hirtennomaden sich nicht als Krieger profilieren können, wenn sie Herden zu hüten haben, leuchtet ein. Es ist dann wohl zu arbeitsteiligen Spezialisierungen gekommen. In unserer Mythologie sind Kain und Abel ein exponiertes Brüderpaar. Eine simple Eifersuchtsgeschichte wegen eines von ihrem Gott verschmähten Opfers? Das greift mir zu kurz. Kain der Ackerbauer und Abel der Hirte, das steht für einen viel tieferen Konfliktstoff.

Ich bewegen mich hier im Reich der Spekulation, weil ich nicht sehr sachkundig bin, was die Neolithische Revolution und den Übergang zur Seßhaftigkeit angeht. Es weist viel auf diese Arbeitsteilung hin: Wer sich dem Kriegshandwerk gewidmet hat, mußte gewöhnlich nicht auf dem Feld schuften, hatte aber für seinen Fürsten auf dem Schlachtfeld einzustehen. Aber beide Professionen haben das Zeug zur Brutalisierung der Menschen. Was die Bauernschaft angeht, kann man das heute noch erfahren, wenn man etwa mit alten Menschen spricht, die ledige Dienstbotenkinder waren.

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Es geht mir hier um diesen Komplex von Gewalterfahrungen, durch die Menschen irreversibel verändert werden, was – wie man heute weiß – auch in Kindern und Enkeln weiter wirkt. Ich hab im Projektlogbuch zum „Sarajevo-Komplex“ notiert: „Wir sind, so nehme ich an, die einzige Spezies, welche sich innerhalb ihrer Art den Langzeitfolgen von Grausamkeit uns Schrecken stellen muß. Nur wir Menschen sind gerüstet, solcher Ereignisse zu überleben.“ [Quelle]

Um es deutlich zu machen: Wenn Tiere besonderen Grausamkeiten ausgesetzt sind, dabei schwer verwundet wurden, haben sie selbst keine Mittel, das zu lindern und zu überleben. Bei uns Menschen ist das anders.

Die Möglichkeiten menschlicher Gemeinschaft und medizinischer Hilfe führen dazu, daß wir unzählige gezeichnete Menschen unter uns haben, von denen wir oft nicht genau wissen, auf welche Art sich erlebte Grausamkeiten und andere Gewalterfahrungen ihn ihnen mit Konsequenzen eingenistet haben.

Ich erwähne deshalb explizit andere Gewalterfahrungen, weil nicht nur intendierte Attacken zur Wirkung kommen. Auch ein Unfall, von niemandem gewünscht und vorsätzlich herbeigeführt, der einen in vielen Weltgegenden töten würde, kann bei uns Dank der sozialen wie medizinischen Mittel und Möglichkeiten überlebt werden.

Ich denke, daß die Seele nichts von Hubschraubern, Notfallmedizin und erstklassigen Operationssälen weiß. Die Seele und der Körper wissen bloß, daß es bei massiven Verletzungen nun endet. Dieser Schrecken imprägniert einen gewissermaßen. In der Folge ist es zutiefst irritierend, wenn man aus solcher Todesgefahr zurückgeholt wird und dank ausreichender Unterstützung heilen kann.

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Zu diesen Formen des Versehrens von Menschen kommt ein epidemisches Ausmaß an häuslicher Gewalt, außerdem ein unerträglich hoher Anteil an sexualisierter Gewalt. Auch das sind bewährte Beiträge, Menschen für den Rest ihres Lebens Schaden zuzufügen und den Konsequenzen solcher Demütigungen Dauer zu verleihen.

Wenn wir also "Landkarten der Angst" betrachten, ein Motiv aus dem vergangenen Kunstsymposion, dann stoßen wir unweigerlich auf diese "Imprägnierungen" und Läsionen, wie aus etlichen von uns gewissermaßen "Trojaner" machen, die allerdings -- im Gegensatz zum antiken Pferd vor Troja mit seiner brisanten Fracht -- keine leblosen Container sind, in denen einfach etwas lagert. In lebendigen Wesen arbeitet das alles weiter, verändert sich ständig in seinen Möglichkeiten und Wirkungen.

Ich denke, an unseren südslawischen Nachbarn können wir gut sehen, was auch unsere eigenen Leute durchlaufen waren und was uns damals in der Kindheit erreicht hat, wo wir nicht in der Lage waren, diese Kräftespiele zu entschlüsseln. Der Untergang Jugoslawiens, dessen Vorgänge und Folgen, zeigen anschaulich, wozu wir in der Lage sind, wenn wir diese Kräftespiele nicht unter Kontrolle bekommen. Hier steht bewußt wir und nicht sie. Das beliebte Klischee, die Balkanesen seien blutrünstiger als wir, ist natürlich Unfug. Die Zeitspanne von 1918 bis 2018 hat uns ausreichend Gelegenheit geboten, diese Fragen zu klären.

-- [Der Sarajevo-Kontext] --

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