19. September 2018

Das Gehen reguliert Stürme im Kopf. So wußten es in der Antike die Peripatetiker, so bewährt es sich bis heute. Meine Erfahrung besagt, jede gedankliche Komplexitätskrise rüttelt sich unter Schritten zurecht. (Ein preiswertes Vergnügen.)

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Außerdem liefert der Wegesrand laufend interessante Eindrücke, selbst auf vertrauten Pfaden. So hab ich gestern ein Wegkreuz entdeckt, von dem ich dachte, daß es neu sei, eben erst aufgestellt, weil es mir vorher nie aufgefallen war. Die Wetterspuren widersprechen dieser Annahme. Es gehört zu den wenigen, bei dem die Nägel -- anatomisch korrekt -- oberhalb des Handgelenkes eingeschlagen wurden, zwischen Elle und Speiche. (Ein Nagel durch die Handflächen könnte das Körpergewicht nicht tragen.)

Das sind Details, die mich im Zusammenhang mit dem Projekt "Wegmarken" beschäftigen, denn diese Klein- und Flurdenkmäler sind in unserem Lebensraum dicht gesetzt uns machen eine bedeutende Quelle allgemeiner Wahrnehmungs-Erfahrungen aus, wenn man darüber nachdenkt, wo Menschen im Alltag mit künstlerischen Arbeiten aller Qualitätsstufen in Berührung kommen können.

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Auf meiner Route ist bei einem lokalen Betrieb ein Raucherwinkel eingerichtet. Den kann man eigentlich ebenso zu den kulturellen Wegmarken zählen, denn da stehen zwei Exemplare des Stahlclubsessels B 3 von Marcel Bremer, einem bedeutenden Designer. Genauer, das sind Kopien des "Wassily Chair", also mit dem Maler Wassily Kandinsky assoziiert. Leitikonen eines völlig neuen Möbeltyps, der in den 1920er Jahren entwickelt wurde.

Ich lese unseren Lebensraum täglich als Kulturlandschaft. Das ist nichts Besonderes, sondern grundlegender Teil meiner Profession. Das Lesen meint also nicht bloß Text, sondern grundsätzlich: Zeichensysteme. Zum Lesen gehört stets auch allerhand Kontext und Subtext. Mir scheint, es verlangt permanente Lektüre, um diese Textteile entschlüsseln zu können.

Die Faustregel besagt: Je mehr ich schon erfahren habe, desto mehr Anknüpfungspunkte findet das Neue, das bisher Unbekannte. Literatur ist dabei natürlich nur eine der möglichen Quellen. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit, Textpassagen, Seiten, oft ganze Bücher zwei, drei mal zu lesen, damit ich zu begreifen anfange, was mir der Text anbietet. (Wer meint, jeder Text müsse sich bei erster Durchsicht erschließen, liest offenbar andere Bücher als ich.)

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Foto: Richard Mayr zu "Interferenzen"

So pendle ich dieser Tage in der Lektüre zwischen Josef Pieper und Robert Pfaller. Philosoph Pieper verlangt mir da in der Lektüre keine Zusatzrunden mehr ab, Pfaller sehr wohl. Das ist gerade für meine Arbeit mit Richard Mayr an den "Wegmarken", aber auch an unseren "Interferenzen", unausweichlich.

Der Grund dafür ist banal. Wissenserwerb ist ein Prozeß, oft eine Mühe. Seit der Antike kennen wir dieses Kräftespiel. Da ist das Begehren, um etwas zu erringen, das es nicht gibt, das noch nicht da ist, das man selbst nicht ist oder nicht hat. Platon nannte dieses Begehren im "Symposion" den Eros, der also nicht bloß als ein sexuelle konnotiertes Gefühl bekannt wurde. Der Lohn für die Mühen, sich das zu erschließen, ist Gnosis. Erkenntnis.

Im alten Griechenland wurde Gnosis als eine erleuchtende beziehungsweise erlösende Erkenntnis gedeutet, was mir zeigt: das ist nicht bloß eine rationale Kategorie. Das ist nicht einfach Faktenwissen durch das Verdichten von Informationen. Es handelt von erhellenden Schlußfolgerungen und veränderten Zuständen.

Für mich bleibt es also naheliegend, daß ich Texte oder Textpassagen notfalls mehrmals lese, wenn sie sich mir bei erster Durchsicht nicht eröffnen, so mich das Thema ausreichend interessiert. Zugleich begleiten mich seit Jahren die Empfehlungen, daß ich es als Autor einfacher machen möge. Das aktuelle Beispiel zu meinem vorigen Eintrag lautet:

"ich bin kein fan von martins oft abgehobener sprache, der viele kaum folgen können. (in diesem beitrag empfinde ich ihn zugegebenermaßen leichter verständlich als schon oft in der vergangenheit). diese sprache bewirkt wieder sehr viel trennung."

Wie kurios, daß ich angeblich ein Trennendes setze, weil jemand sich der Komplexität, die mich bewegt, nicht widmen mag. Dann interessiert mich freilich: wie hätte es die Person denn gerne? Das offenbart sich dann etwa mit folgendem Mem:

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Quelle: Facebook, heute entnommen

Nun ist ja "Echt sein" eine völlig trübe Kategorie, die alles und nichts sagt, weil der Referenzpunkt fehlt. Was das Echte sei, kann erst verstanden werden, wenn ich auch erfahre, was das Falsche sein soll. (Es ist daher vermutlich eher eine Relation, als eine Position.) So aber streut man Wohlfühlsätze aus, die ganz beliebig mit Inhalten verknüpft werden können. Das ist genau jenes problematische Framing, wie ich es jüngst kritisiert habe. Eine samtene Stimmungsmacherei mit Begriffen, die mich über konkrete Inhalte völlig im Unklaren lassen.

Daß dieses Nebulose auch noch mit dem Prädikat "Erhöhtes Bewußtsein" markiert wird, rückt es endgültig in jene Gassen, wo auch die Rechtspopulisten und die Vaterländischen Quote machen. Vollmundige Sätzchen, kühne Behauptungen, die sich in den Bereich von höherem Wissen und Bewußtsein reklamieren, also: Herrschaftswissen, doch wenn du nachfragst: "Was soll denn das heißen?", bleibst du in einer Nebelkammer zurück.

Aber, klar, diese Botschaft muß ich nicht mehrmals lesen, um ein Gefühl zu bekommen, was sie besagen, bedeuten könnte. Die Pointe: Da kann ich mich selber per Projektion wunderbar spiegeln, kann mich immer vorteilhaft gemeint fühlen... Ich vermute, da geht's auch nicht um Gnosis, sondern um ein bißchen Wohlfühlen. Und ja, da trennt uns was. In meiner Welt bedeuten solche Sätzchen gar nichts...

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