23. März 2019

Ich habe einen Freund, mit dem ich seit Jahren gut zusammenarbeite, hinter dem liegt eine Weltkarriere. Das handelt unter anderem von seinen Eigenheiten, die er in einer Berufstätigkeit auf verschiedenen Kontinenten erworben hat. Das äußert sich auch in allerhand Kleinigkeiten. Zum Beispiel, wenn er Servicekräfte mit Trinkgeldern überrascht, deren Höhe ich bei uns für ungewöhnlich halte. (Ich fühle mich schon spendabel, wenn ich einen Euro draufhaue.)

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Zu diesen importierten Gewohnheiten gehört bei ihm der IOU, den ich vor einer Weile kennengelernt habe. Das ist ein beliebiger Zettel, beschriftet mit den Buchstaben IOU, einem Geldbetrag, einem Ort und Datum plus Unterschrift. Genau! Ein formloser Schuldschein, überschrieben mit dem Bekenntnis "I Owe You" = Ich schulde dir. Der Zettel führt zu einem Moment, wo der Mann ein Bündel Geldscheine aus der Tasche zieht und den vereinbarten Betrag herunterzählt.

Wird die Schuld beglichen, fordert der Mann nachdrücklich: "Du mußt ihn jetzt zerreißen." Das ist Teil des Rituals, aber auch Sicherheitsmaßnahme, denn der IOU könnte selbstverständlich weitergereicht und mir prinzipiell erneut präsentiert werden. So markiert dieser kleine, zerknitterte Zettel eine Nische, in der es um eine Ehrensache geht.

In meinem Metier ist es weitgehend unmöglich, Rücklagen zu bilden. Verzögert sich also die Auszahlung eines Honorars, was oft vorkommt, oder wird ein vereinbartes Projekt zeitlich verschoben, womöglich auf das folgende Jahr, entstehen leicht Engpässe, die durch nichts abgedeckt werden, außer eine Bank gewährt mir noch Spielraum.

Der ist aber bei einem bescheidenen Jahreseinkommen kaum machbar bis unmöglich. Das heißt, im Bereich der EPU, jener Einpersonen-Unternehmen, die in Österreich gut 60 von 100 Prozent der heimischen Betriebe ausmachen, ist die Geldbeschaffung bei Banken zur Überbrückung von Engpässen heute fast aussichtslos. Da dies aber ein Volk von Angestellten ist, in Österreich nur wenige Menschen unternehmerisches Risiko auf sich nehmen, herrscht auch keine allgemeine Kenntnis, daß kurzfristige Kredite zu jedem Geschäft gehören. Unter selbstständig Erwerbstätigen sind Abschnitte auf Pump etwas ganz Alltägliches, dem man nicht entkommt.

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Daher kann so ein IOU in manchen Abschnitten existenzielle Bedeutung erlangen, weil die ganzen EPU so gut wie keinerlei Kreditwürdigkeit haben, haben können; außer jemand kann ein Haus belehnen oder ähnlich Dinge von Wert. Wenn es also ausreichendes Vertrauen gibt, entstehen solche privaten Nischen, wie der IOU. Ich hatte anfangs gezögert: "Ich weiß nicht, ob ich es zurückzahlen kann." Die Antwort lautete: "Na, das würde mich nicht umbringen."

Bei größeren Projekten hieße sowas wohl Risikokapital. Mein Freund, der vermutlich in anderen Ländern mehr Zeit verbracht hat als hierzulande, kennt also diese Zusammenhänge. Er und andere wüßten von Gesellschaften zu berichten, da zählst du als Entrepreneur nur wenig, wenn du noch nie pleite warst. Was soll denn einer von den Geschäften verstehen, was hat er denn schon gemacht, wenn er noch nie gescheitert ist? Was weiß einer, wenn er noch nie bankrott gegangen ist?

Ich hab das inzwischen hinter mir und dabei ein Reihe kurioser Erfahrungen gemacht. Am eindrücklichsten sind die Zurufe, die besserwissenden Einwände von Leuten, denen man noch keinerlei eigenständiges Geschäftsleben nachweisen kann. Am abschätzigsten waren die Töne aus Positionen solide angestellter oder sonstwie alimentierter Menschen, aus deren Biographien keinerlei bemerkenswerte Risiken bekannt sind, also auch kaum Kompetenzen im Bewältigen solcher Phasen. Aus eben solchen Lagern habe ich übrigens auch mit Staunen erfahren, daß ich ja eigentlich in so manchem Jahr mein Geld mit der Schaufel eingelagert hätte, so reichlich müsse es geflossen sein.

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Von erfahrenen Unternehmern wird man solche Blödsinne nicht hören. Ich erinnere mich an die Schilderungen eines Freundes, den man heute als höchst erfolgreichen und gut situierten Geschäftsmann einschätzen darf, wie er seine erste Million versenkt hatte. "Ja, das bringt dich um den Schlaf, wenn du plötzlich deine Familie nicht ernähren kannst."

Wir haben dafür keine angemessene Kultur, schon gar nicht in meinem Milieu der reflektieren, kritischen weltoffenen Menschen. (Unter ihnen sind die Freelancers hier Ausnahme.) Nur wenige zeigen sich dafür sensibel. Kaum jemand käme auf die Idee zur Ermutigung: "Okay, ich würde so auf keinen Fall leben wollen, aber interessant und womöglich irgendwie ein Gewinn, daß du es versuchst."

Nein, mir liegt nichts daran, das zu beklagen, zumal ich die Phase, wo es darauf angekommen wäre nun schon hinter mir habe. Es schafft ein Stück Klarheit, was ich schätze. Ich hab neue Kriterien für die Geschwätzigkeit so mancher Leute, die eine ziemlich große Klappe haben und dahinter mit brav gebeugtem Haupt jene Zumutungen schlucken, die ihnen ihr Lebensstil aufzwingt. Das ist kein "Wir", von dem ich so oft jemanden habe herumposaunen gehört.

Und wie sich einmal mehr zeigt, verleitet individuelle Angst zu allerhand Niedertracht. Das bewegt mich nun nicht weiter, denn diese Zeilen haben eigentlich bloß folgende Überschrift: "Fürs Protokoll".

Ich bekomme freilich immer noch Zurufe von Kanaillen, die sich in ihrem Leben nichts getraut haben, mehr oder weniger duldsam abgearbeitet haben, was ihnen die eigene Existenzangst erlaubt, und sich vielleicht deshalb so gerne mit ungefragten Ratschlägen und halbgarer Besserwisserei in das Leben anderer schrauben. Diese ewigen Zaungäste, von denen man nichts lernen kann, die letztlich sich selbst und anderen eine Bürde sind, auch wenn sie ihre Rechnungen pünktlich zahlen.

Das sind ja zugleich erbärmliche wie treffende Beiträge zum Zustand der Welt, in welcher die Kluft zwischen bedenkenlosen Goldgräbern und gemeinwesenorientierten Menschen erneut immer weiter aufgeht.

Ich kapiere erst jetzt so langsam, wie das alles zusammenpaßt, auch im größeren Rahmen, dieser Rechtsruck Europas, diverse Umbrüche, die auch den Kulturbetrieb längst umfassend infiltriert haben, bis hin zu solchen Ensembles privater Schäbigkeiten, über die herunternivelliert, gestutzt werden soll. Und zwar das, was jemand über Levels hinausgeht, die einem selbst gerade noch erträglich scheinen.

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Wie kommt das? Diese kleinen privaten Anmaßungen als skurriler Ausdruck einer Dekadenz, die als Ersatzhandlung dienen muß, wo uns eine große Erzählung zwischen den Fingern zerronnen ist und der Mumm für eine neue Erzählung fehlt. Welche Narrative damit gemeint sein könnten?

Das imperiale Österreich hat sich 1918 selbst versenkt. So talentlos und inkompetent, wie Kaiser Franz Josef und Kaiser Karl im Großen Krieg agiert haben, läßt einen fassungslos. Danach kamen der Faschismus und der Sozialismus als nächste Narrative zum Zug. Die faschistische Erzählung war 1946 vorerst erledigt und hat derzeit in diversen Short Stories ein Comeback,

Der Sozialismus war mit dem Mauerfall und dem Ende der Sowjetunion fast vom Tisch. Es brauchte dann noch den Untergang Jugoslawiens, um diese Geschichte rund zu machen, wobei Srebrenica symbolhaft zur Schande für ganz Europa wurde.

Was blieb? Eine liberale Erzählung, deren Partitur als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfaßt war. Es mag schon sein, daß wir hier diese Rechte für universell halten, in der Praxis sind sie es nicht. Große Staaten wie China machen deutlich, daß wir an diesem Glauben ruhig festhalten können, die Faktenlagen haben ganz andere Kapitel.

Damit will ich sagen, man kann sich nun in einem empörten Geblöke verausgaben, das die Ohren in China nicht erreicht, auch die in Putins Rußland nicht, so jene von Trumps Amerika. Es scheint nicht einmal bis zu Orbans Ungarn oder Salvinis Italien zu reichen. Auch in Österreich gibt es diesbezüglich Gehörprobleme.

Was hat das alles mit der eingangs erzählten Geschichte privater Natur zu tun? Ich denke, die Niedertracht und die Mißgunst sind Reaktionen auf Überforderung. Die schäbigen Effekte schlagen dort ein, wohin jemandes Kraft reicht. Das ist dann oft nur der eigene Freundeskreis. Die Überforderung kommt aus komplexeren Zusammenhängen...

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