9. April 2019

An einer Stelle von "Fahrenheit 451" läßt Ray Bradbury seinen Montag nach dem Dienst zuhause von der alten Frau erzählen, die aus freien Stücken mit ihrer Bibliothek in den Flammen unterging. Mehr noch, sie legte den Brand selbst, überließ es nicht den Schergen des Regimes, diese Zumutung an ihr zu vollziehen. Sie entriß ihnen die verheerende Geste, um einen letzten Akt der Selbstbestimmung zu setzen: "The woman on the porch reached out with contempt for them all, and struck the kitchen match against the railing. People ran out of houses all down the street."

log2619a.jpg (14750 Byte)

Das ließ mich seinerzeit spontan an Janusz Korczak denken, jenen polnischen Arzt, dem die Nazi das Waisenhaus ausgeräumt hatten. Die Barbaren brachten die Kinder nach Treblinka. Korczak hätte sich der Gewalt beugen können, die Nazi gewähren lassen, sich heraushalten. Aber er stand den Kindern bei, begleitete sie und ging mit ihnen in den Tod.

Ich bin von der Stille dieser Geste bis heute beeindruckt, denn es ist mir unvorstellbar, daß Korczak unter den Fäusten der Barbaren hätte laut werden können. Ich vermute, er nutzte seine verbliebene Kraft ausschließlich in der Zuwendung an die Kinder, um sie auf diesem letzten und völlig unausweichlichen Weg zu beruhigen.

In meinem Verständnis war das keine heroische Geste, keine große Pose, sondern die gefaßte Konzentration auf das Wesentliche. In diesem Sinn läßt auch Bradbury die alte Frau in ihrem Haus agieren. Kein heftiger Wortwechsel, keine aussichtslose Gegenwehr, keinerlei fruchtloser Verständigungsversuch mit Bütteln, die ohnehin nicht verstehen würden, wovon sie redet und was sie tut.

Feuerwehrmann Montag war zu dem Zeitpunkt zwar schon längst in seinen Aufgaben wankend geworden, doch er hatte noch keinen Zugang zu den Motiven der Frau. Wir können bei Dissens, bei Auseinandersetzungen, eben nur jene erreichen, die schon etwas mit uns teilen, andere aber nicht. So sind wir offenbar gemacht.

Was Montag und seine Frau Mildred anging... "You weren't there, you didn't see," he said. "There must be something in books, things we can't imagine, to make a woman stay in a burning house; there must be something there. You don't stay for nothing."

Du bleibst doch nicht für nichts in Gefahr!

Der Roman von Bradbury erschien 1953. Elias Canetti veröffentlichte im Jahr 1936 "Die Blendung". Sein Peter Kien lebte darin zwischen vielen tausend Büchern, erwies sich als unangenehmer Ehemann und verlor in seinem Herausfallen aus der Welt langsam den Verstand, während er sich in seiner Bibliothek quasi verkeilte. Auch Kien verbrannte mit seinen Büchern im Feuer das er selbst entfacht hatte. Zwei grundverschiedene Varianten einer Selbstverbrennung, die alte Frau ganz bewußt und konzentriert, Peter Kien verwirrt.

cover.jpg (29369 Byte)

Montag entzog sich schließlich der Zurichtung, ließ hinter sich, was ihm zu enge Grenzen setzte. Er folgte einem alten Schienenstrang aus der Stadt hinaus, um in den Wäldern auf Menschen zu stoßen, die sich ebenfalls entzogen hatten. Er erreichte "...a strange fire because it meant a different thing to him. It was not burning; it was warming!"

Ich habe diesen Gang entlang der Schienenstränge in einigen Variationen nachgespielt, über die Jahre immer wieder neu absolviert. "It was not only the fire that was different. It was the silence. Montag moved toward this special silence that was concerned with all of the world."

Die Wärme und die Stille als Gravitationsmomente einer Welt des Geistes mitten in den Wäldern. Es gab Jahre, da dachte ich, man sollte Anstrengungen setzen, um Menschen für solche Situationen zu gewinnen. So verstand ich einige der Motive, mit denen Wissens- und Kulturarbeit geleistet wird. Diese Vorstellung habe ich inzwischen abgelegt.

Heute denke ich, die Geleise sind da, die Wälder sind da. Zurufe sind unnötig. Es steht allen frei, aus gängigem Trubel herauszutreten. Bradbury beschrieb Montags Aufbrechen so: "With his hand he sensed the floor, meter left, meter right. The railroad tracks, which came out from the city and rusted away in the countryside, through the now deserted woods by the river. Wherever he wanted to go, this was his path."

Einen anderen Gang hab ich vor Jahren südlich von Gleisdorf nachgestellt. Dabei ging es mir um Denis Diderot, den ich für eine bedeutende Figur in den Verläufen des westlichen Europas halte. Im heißen Sommer von 1746 verbot die Regierung sein Buch "Pensées philosophique". Seine Gegner verbrannten es demonstrativ.

kont08b.jpg (21911 Byte)

Diderot wurde in Vincennes eingesperrt. Dort besuchte ihn Jean Jaques Rousseau mehrmals. Um das Geld für die Kutsche zu sparen, ging Rousseau die rund acht Kilometer von Paris nach Vincennes zu Fuß. Einen Teil dieses Fußweges brachte er lesend zu, um sich die Zeit zu vertreiben. Als ich diese Situation nachgestellt hab, war "Der Großinquisitor" von Fjodor M. Dostojewski meine Lektüre unterm Gehen.

Die Route: Gleisdorf ("Paris"), Wünschendorf, Pirching an der Raab Ort, Pirching an der Raab, Kowald, Hofstaetten Obertrum, Hofstaetten an der Raab, Takern I, Bahnhof Takern / St. Margarethen ("Vincennes").

vinc09.jpg (19661 Byte)

Das war im Jahr 2004, schon als Teil von "The Long Distance Howl". Inzwischen bin ich selbst aus der Zeit gefallen, in eine Diskrepanz zu dem geraten, was hier in den Städten Vorrang hat. Das fand ich erst einmal sehr beunruhigend. Diese Unruhe hat sich gelegt. Bei Bradbury gibt es, wie erwähnt, diesen Moment, wo Montag in den Wäldern auf Menschen trifft...

The voices talked of everything, there was nothing they could not talk about, he knew from the very cadence and motion and continual stir of curiosity and wonder in them. And then one of the men looked up and saw him, for the first or perhaps the seventh time, and a voice called to Montag: "All right, you can come out now ! " Montag stepped back into the shadows. "It's all right," the voice said. "You're welcome here."

[kontakt] [reset] [krusche]