26. Juni 2019

Gestern also Matthias Marschik, Foucault und diese Effekte, „wie Diskurse für lange Zeit gültig sind, und wie sie in einem bestimmten Moment innerhalb weniger Jahre sich massiv verändern.“

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Memory, Truth, Vision: Autor Helmut Schranz (†)

Ich versuche gerade, mich genauer zu erinnern, ob ich so ein Kippen schon einmal erlebt hab. Aber was ich als Ära empfinde, die nun offenbar geendet hat, ist durchgängig, obwohl mir dabei eine spezielle Merkwürdigkeit schon früher aufgefallen ist. Diese Tendenz, Defizite einer Gesellschaft umzudeuten. Das kommt am Ende solcher Bearbeitung als ein individuelles Versagen heraus. Das meint, strukturelle Mängel werden einem eventuell als persönliche „Fehlleistung“ angeheftet, was die Auseinandersetzung mit komplexeren Kräftespielen erspart.

Was mir diesbezügliche Gespräche der letzten Wochen eher bestätigen: Die alten Versprechen, denen wir uns verpflichtet sahen, sind tatsächlich in hohem Maß entwertet, sind ungültig geworden. Dieses neue Paradigma „Sichtbarkeit vor Authentizität“ läßt sich mit ganz banalen Beispielen belegen. Zum Beispiel: Jedes ausführlichere Statement auf Facebook erscheint rekordverdächtig, wenn ich dafür drei bis vier Likes kassiere. War ich beim Friseur und belege das mit einem Foto, sind 30 Likes das Minimum.

Ich beklage das nicht, es sind authentische Verhältnisse. Marschik hatte es so ausgedrückt: „In einer Zeit des Jugendwahns und der markttauglichen Aufbereitung (statt Inhalten) sind unsere Ideen vermutlich wirklich nicht mehr ‚zeitgemäß‘.“

Genau diesen Aspekt, die markttaugliche Aufbereitung, hatten wir uns im Jahr 2007 als Thema vorgenommen. Das war unser next code: coffee“ im Rahmen der netart community convention in Graz. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil damals ein wichtiger Impuls wieder einmal aus der Architektur kam. Und zwar über den Begriff Rendering.

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Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov

So manche Bürgermeister wollten die Komplexität von Vorhaben nicht mehr erkunden und ihrem Gemeinderat darlegen oder gar der Bevölkerung. Statt dessen würde „A schön’s Rendering“ bevorzugt, also eine attraktive Darstellung in ansprechenden Bildern, die Debatten würden lieber ausgespart und schneller vom Tisch ist. Zack, zack, zack, erledigt!

Verstehen Sie mich recht, ich hab heute kein Interesse mehr daran, über diese Zustände zu lamentieren. Ich erkenne den Status quo an. Aber ich brauche stichhaltige Befunde und klare Beschreibungen, um meinen eigenen Standort festlegen zu können. Der befindet sich eindeutig in Opposition zu solchen Verhältnissen.

Ich hab oben den Modus „Sichtbarkeit vor Authentizität“ erwähnt. Er läßt sich an einem prominenten Beispiel überprüfen. Ich hab, staunend, das Youtube-Video "ABOUT YOU Awards 2019 - Ganze Sendung" (Die größte Influencer Award Show des Jahres) durchgesehen. Ich war einerseits verblüfft, daß man mir ein derart großes Rudel blendend aussehender junger Menschen in so kontrastreicher, eindrucksvoller Kostümierung zeigen konnte.

Ich war andrerseits irritiert, daß sich im Laufe von eindreiviertel Stunden kein einziger geistreicher Satz zitieren läßt. Ich hab mich bemüht, das Video in Abständen zweimal durchzusehen.

Da ist nichts zu holen. Mehr noch, selbst routinierte Showgrößen wie Heidi Klum und die Kaulitz-Zwillinger sind damit überfordert, haben nichts auf Lager, äußern sich mehrfach in geradezu dummem Gestammel. (Ich nehme gerne Post entgegen, die mir aus dieser Sendung irgendeinen klugen Satz liefert, den ich überhört habe.)

Ich nenne solche Verhältnisse einfach Verschnöselung und kann mich mit der Rudelbildung von Schnöseln nicht weiter befassen. Bezüglich der Politik sieht das für mich anders aus...

-- [Das Feuilleton] --

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