5. Juli 2020

Alter Schwede!

Mentalitätsgeschichte. Was für ein schönes Thema, für das man allein in unseren Sprachgewohnheiten jederzeit mit der Schatzsuche beginnen kann. Die Behäbigkeit unsere kulturpolitischen Situation hat womöglich einige ihrer hemmenden Aspekte aus eben solchen Zusammenhängen.

Natürlich könnten gerade wir Leute der Kultur- und Wissensarbeit wissen, daß Sprache Realität schafft, nicht bloß abbildet. Das nimmt uns aber nicht von entsprechenden Verhaltensweise aus, wie mir zum Beispiel aktuelle Petitionen mit ihren Inhalten zeigen. Mentalitätsgeschichte bildet sich natürlich in unserem Sprachgebrauch ab.

Was ich meine? Ein paar unverfängliche Beispiele. Wenn sich jemand überrascht fühlt, wird heute „Potz Blitz!“ kaum noch zu hören sein. „Donnerwetter!“ dürfte noch eher vorkommen. In Österreich ist „Oida!“ immer noch sehr populär, was „Alter!“ meint. (Bei uns freilich eine Universalvokabel, wie Ewa Placzynska in ihrem Youtube-Tutorial darlegt.)

Eine Langfassung von „Alter!“ lautet „Alter Schwede!“ und hat offenbar gerade wieder Saison. Ich hab mich in diversen Show-Formarten umgehört. Von „Big Brother“ bis zum wirklich harten „Promis unter Palmen“ kann man dem „alten Schweden“ laufend begegnen.

Der ist übrigens historisch belegt. Dieser Spruch meinte ursprünglich schwedische Soldaten aus dem Dreißigjährigen Krieg, Männer mit Schlachtfeld-Erfahrung, die in Deutschland zur Ausbildung neuer Einheiten verwendet wurden, was unter anderem durch innovative Waffentechnik nötig geworden war.

Ich hab 2013, in der Vorbereitung für das Thema 1914-2014, notiert: „Vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) heißt es, er habe die Menschen Europas so hart getroffen und traumatisiert, daß die Nachwirkungen teilweise bis heute in unserer Mentalitätsgeschichte auffindbar seien.“ [Quelle]

Im Jahr 2018 hat es mich erneut beschäftigt, da auch im Zusammenhang mit laufender Kulturarbeit, überdies mit den äußerst anregenden Arbeiten von Aleida und Jan Assmann zu den Themen Erinnern und Kollektives Gedächtnis; siehe: [link]

Zurück zum Gegenwärtigen: Es geht mir hier noch weiterhin um aktuelle kulturpolitische Zusammenhänge und Optionen. Ich werde auch die verschiedenen Typen noch genauer darstellen, die ich in jüngerer Vergangenheit als Plombenzieher erlebt hab. Amtsverweigerer, Chamäleon, Hütchenträger, Simulant, Spießer, Trittbrettfahrer, Vaterländischer, Verschwörungs-Ministrant… Das Rollenrepertoire der neuen Bourgeoisie, die durch solche Skizzen besser verstehbar erscheinen soll.

Ich nehme sogar an, das schwer erträgliche Benehmen von Teilen unserer Bunderegierung, dieses Heucheln, Lügen, Schönreden und Wegreden, wie es inzwischen evident wurde, hat etwas mit den Verhältnissen zu tun, die wir schon hier an der Basis und unter uns eingeführt, zugelassen haben.

Die letzten 20 Jahre Kulturinitiativen-Szene zeigen mir allerhand von dem, was uns derzeit manche Regierende auf viel professionellere Art zumuten. So gesehen kann ich über die seit Monaten grassierende Empörung in meinem Metier nur staunen.

Ich hab mich inzwischen beruhigt. Das Prinzip der Antwortvielfalt führt zwingend auf ein Feld verschiedener Lager, die einander eben auch stellenweise unfreundlich gegenüberstehen. Muß ich nach den Interventionen des Bourgeois suchen, nach seinen Motiven fragen? Nein. So viel Zuwendung kann ich derzeit nicht aufbringen.

-- [1985 bis 2015: Das Protokoll] --

Wie gesagt: wir beleben verschiedene Lager, in denen verschiedene ideologische Konzepte und Erfolgsstrategien geübt werden. Das „Wir“ der Kulturschaffenden Österreichs halt ich für ein Phantasma, aber ein Wir verschiedener Lager könnte politische Relevanz erreichen. Könnte…

-- [Kulturpolitik] --

[kalender] [reset]