19. August 2020

Natürlich habe ich gestern sehr pointiert, ja polemisch formuliert: „Das ganze 20. Jahrhundert ist ein Beleg dafür, daß keine Diktatur so effizient darin ist, Menschen zu gängeln, wie kapitalistisch orientierte Systeme.“

Das war eine Glosse zur Klage von Publizist Florian Klenk, selbst gebildete Leute würden ihn mit dem Gerücht behelligen, der IWF habe Regierungen geschmiert, auf daß sie Bevölkerungen in den Lockdown schickten.

Diese abstruse Idee, mit der man keinen Plausibilitätstest bestehen könnte, handelt von der Angst, Regierungen würden die Pandemie nützen, um uns unserer Freiheitsrechte zu berauben. Ich hielt dagegen, Kapitalismus und Massenkonsum sei ein besseres und lukrativeres Konzept, um Menschen zu gängeln, statt sie einzusperren.


Dazu kam eine interessante Reaktion von Publizist Johannes Tandl: „Die Marktwirtschaft ist das einzige System, in dem auf übergeordneten Ebene Demokratie entstehen kann. Mitbestimmung und Partizipation funktionieren sonst nämlich nur in altruistischen Gesellschaften. Und Altruismus gibt es bestenfalls in Familien- und Stammesstrukturen, aber niemals auf staatlicher oder gar internationaler Ebene.“

In dieser Einschätzung sind wir uns völlig einig. Wobei wir interessante Erfahrungen gemacht haben, was Familien- und Stammesstrukturen in einem modernen Nationalstaat bedeuten. Die alte Militärgrenze zwischen Osmanischem Reich und dem Reich der Habsburger weist auf diese Erfahrungen hin.

Es steht außer Streit, daß etliche Balkanstaaten nach dem Untergang Jugoslawiens eine Menge Probleme haben, die teilweise in der Osmanischen Herrschaft wurzeln. Wo viele Generationen unter der osmanischen Verwaltung keine Rechtssicherheit erlebten, außer im eigenen Clan, konnte auch kein größeres Vertrauen in den Staat und seine Institutionen wachsen. Dieses Problem wirkt bis heute nach.

Wer da in eine gute Position kam, hatte einige Gründe, die jeweilige Amtszeit dafür zu nutzen, seiner Familie, seinem Clan, Vorteile zu verschaffen, die sonst nicht erreichbar waren. Falls wir heute auf südslawischen Nachbarn herabblicken, ignoriert das, welche Erfahrungen unsere Leute in der gleichen Zeit machen durften.


Das Bannen von Gewalt und die Rechtssicherheit sind zentrale Grundlagen einer größeren Gemeinschaft. Die osmanische Herrschaft auf dem Balkan endete erst 1912 und 1913 in mehreren Kriegen, bevor der Große Krieg ausbrach, den wir heute Erster Weltkrieg nennen. Gut, unsere Leute waren dann auch nicht gar so flott, sich in Sachen Demokratie zu bewähren. Aber heute wüßte ich kein Land, in dem ich lieber wäre.

Wir üben uns weiter in dem, was Tandl so formuliert hat: „Dort wo es keinen Altruismus gibt, regiert demnach die Gier als Folge von Ehrgeiz und Maßlosigkeit. Da eignet sich der Markt ganz gut als Schiedsrichter, aber auch als Dämpfer der menschlichen Ambitionen. Er achtet außerdem darauf, dass sich nur jene Produkte aber auch Ideen und Konzepte durchsetzen, die marktfähig sind.“

Wäre aktuell zu klären: deckt sich das mit Adam Smith’s Idee von der unsichtbaren Hand des Marktes, die eine Selbstregulierung der Wirtschaft zum Wohle des Gemeinwesens schafft? Wie wirkt sich darauf aus, daß wir Menschen (meiner Meinung nach) unrettbar zu Regelübertretungen neigen? Rund um solche Fragen sollten wir auch darüber reden, was wir vom Konzept des „freien Willens“ halten, das mir als eine ideologische Konstruktion erscheint.

Positiv formuliert: Was immer uns gelingt, beruht auf den Vorleistungen anderer Leute. Unsere Erfahrungen verzahnen sich mit den Konventionen, die aus Erfahrungen der Leute vor uns resultieren. Wäre zu erörtern, ob es a) überhaupt möglich und b) wünschenswert erscheint, daß eine Gemeinschaft sich aus diesen Zusammenhängen herausreißt.

Eine andere Debatte wäre, was Innovation in solchen Zusammenhängen bräuchte und wie wir für Zukunftsfähgkeit sorgen können. Daher auch: wie widmen wir uns zugleich
a) unseren Traditionen und Konventionen, schließlich
b) den Dingen, die heute noch nicht gedacht werden können?

-- [Bourgeoisie] --

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