3. September 2020

Mein Kontinent IV

Was mich an der Entwicklung 2010-205-2020 so schwer irritiert hat, kommt aus einer erstaunlichen Vorgeschichte, die viele nicht mehr vor Augen haben. Dazu muß ich für einen Moment etwas weiter ausholen.

Mauerfall. Das hieß für jemanden wie mich ein merkwürdiges Aufatmen, denn es bedeutete formell das Ende des Kalten Krieges, in dem und mit dem ich aufgewachsen war. Dieses Aufatmen meinte, die ganze Propaganda in ihrer schwarz-weißen Aufdringlichkeit, all die Angriffslust und die reale Overkill-Kapazität bestehender Waffensysteme, die bipolare Deutung der Welt, das durfte enden.

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Vor dem Mauerfall: als Gorbatschow vorfuhr...

Nun mochte unser aller Leben und Miteinander so komplex erscheinen wie es ist. Ich fühlte mich in dem aufgehoben, was wir uns als pluralistische Gesellschaft vorgestellt haben. Ich hielt das für einen Vorteil: Mauerfall.

Es geschah in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. In den 1990er Jahren fiel dann bei uns das Rundfunkmonopol, Piratensender waren Geschichte, es durfte Privatsender geben. Das wurde vor allem auch offenes Terrain für Freie Radios. Kulturinitiativen gewannen neue Kommunikationsräume.

Diese Situation vertiefte sich, als Österreich Anfang der 1990er Jahre in das TCP/IP eingebunden wurde, das „Internetprotokoll“, wonach wir Zugänge zum „Netz der Netze“ bekamen.

Ich war in ein paar eigentümliche Momente dieser Vorgeschichte verstrickt; zum Beispiel hab ich mich zufällig in Ostberlin aufgehalten, als Michail Gorbatschow und Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 den INF-Vertrag betreffs Intermediate Range Nuclear Forces unterzeichneten. Das betraf den vollständigen Abbau aller nuklearen Mittelstreckenwaffen sowie deren Produktionsverbot.

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Krusche: "Memory, Vision, Truth"

Von da kam Gorbatschow nach Ostberlin, um am 11. Dezember 1987 seine Verbündeten im Warschauer Pakt bei einer Konferenz zu informieren. Ich hab diese Tage und meine Eindrücke 2014 im Projekt „Imperium“ thematisiert, da einige von uns in der Region auf den Großen Krieg zurückblickten, die Spanne 1914-2014 betrachtet haben. [Details]

+) Siehe dazu Martin Krusche: "Imperium" [link]

Weshalb ich das hier schildere? Weil ich einen Eindruck schaffen möchte, aus welchen Erfahrungen heraus ich annahm, gebildete Kreise in Europa würden sich verläßlich von der bedenkenlosen Nutzung simpler Freund-Feind-Schemata abwenden.

Der Holocaust, der Kalte Krieg, die Möglichkeit des nuklearen Overkills, ich dachte, das würde auch die Politik Europas nachhaltig prägen. Doch über Lektüre wurde mir klar, daß sich damals, in den 1980ern, schon eine Neue Rechte formiert hatte, um die Politik Europas zu verändern. Heute – 2020 – steht außer Frage: das ist gelungen.



Aus Hochegger/Wegenstein: "Rechtes Denken

Ideologisch sind wir alle wieder in Verhältnissen angelangt, die dem Klima des Kalten Krieges nichts nachstehen. Neu war für mich, daß diese rechte Bewegung in Europa unter anderem zu einer großen intellektuellen Herausforderung wurde, der sich die meisten Leute in meinem Umfeld entzogen haben.

Martin Hochegger, Koautor des Buches Rechtes Denken (Die Krise der Aufklärung), schrieb mir gestern: „Sei gnädig mit dem Kulturbereich... wir alle haben weggeschaut...“

Dieser Kulturbetrieb ist freilich nicht auf meine „Gnädigkeit“ angewiesen, sondern folgt gerade Kräftespielen, die mindestens bei meiner Generation zutiefst irritierende inhaltliche und konzeptionelle Schwächen aufbrechen lassen, deren Ausmaß ich völlig unterschätzt habe. Derzeit hauptsächlich ein Effekt der Corona-Pandemie. Das betrifft mein 2020er-Szenario, in dem ich momentan öfter sprachlos bin, was ich versuche mir nicht gar zu sehr anmerken zu lassen.

-- [Kulturpolitik] [Ab August 2020] --

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