14. Oktober 2020

Der taumelnde Kontinent

Ich halte für geklärt, daß wir alle in einem radikalen Umbruch stecken, der uns vertraute Bilder entreißen wird, um uns die Einübung in neue Verhältnisse abzuverlangen. Aber jede Änderung erzeugt Widerstände. So sind wir Menschen offenbar.

Die ab dem Ende der 1950er Jahre boomende Volksmotorisierung Österreichs umgibt uns heute so selbstverständlich, daß sich unzählige Menschen nicht vorstellen wollen, individuelle Mobilität könnte anders stattfinden als durch den persönlichen Privatbesitz eines Kraftfahrzeugs. Ich denke, da blühen uns in absehbarer Zeit allerhand Überraschungen.


Unsere Denkweisen sind sehr stark von den dominanten Ideologien und kollektiven Erfahrungen unserer Leute im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Ich staune gelegentlich, wie sehr Menschen, mit denen ich zu tun bekomme, in Kategorien des 19. Jahrhunderts denken. Daher fesselt mich die Möglichkeit, jenes radikale 20. Jahrhundert zu entschlüsseln; als einen Beitrag, die Orientierung für das 21. Jahrhundert zu verbessern.

Fin de Siècle, das Blühen Europas, der Große Krieg… Historiker Philipp Blom hat sein anregendes Buch „Der taumelnde Kontinent“ (Europa 1900 – 1914) in Kapitel gegliedert, die je einem jener Jahre und einem markanten Thema gewidmet sind. Der Text zum Jahr 1909 steht unter dem Titel „Der Kult der Maschine“.



Rudolf Konopa: „Flug von Louis Blériot vor Kaiser Franz Joseph I. am 23. 10. 1909“ im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek.(Größere Ansicht)

Blom zitiert zum Auftakt dieses Kapitels Mirabeau mit der Feststellung, Automobilismus sei eine Geisteskrankheit. In diesem Abschnitt des Buches geht es ferner um Louis Blériot, der am 25. Juli 1909 mit seinem Eindecker „Blériot XI“ als erster Mensch den Ärmelkanal überflogen hat.

Der Theaterbesitzer Leopold Müller lud Blériot für Herbst 1909 nach Wien ein. Es wurde ein finanziell sehr einträgliches Spektakel, das der Maler Rudolf Konopa in einem dreiteiligen Gemälde festgehalten hat: am 23. 10. 1909 ließ sich Kaiser Franz Joseph I. den Flugapparat von Louis Blériot persönlich erklären. Der Monarch soll gesagt haben: „‚Sehr hübsch! In der Tat sehr hübsch!“



„Blériot‘ Cross Country Flight“ in „The boys' book of airships“ (1909) von Harry Delacombe

Blom nennt Rennfahrer und Flieger als Publikumsmagneten, notierte: „Rennen waren eine der Obsessionen dieser Jahre, Geschwindigkeit war ihre Droge“. Den Umschlag der Paperback-Ausgabe seines Buches ziert ein berühmtes Foto von Jacques-Henri Lartigue: „Grand Prix de l'A.C.F.“ von 1912. (Grand Prix de Dieppe, veranstaltet vom A.C.F. = Automobile Club de France.)

Stefan Zweig hinterließ uns in „Die Welt von gestern“ (Erinnerungen eines Europäers) mit seinen Anmerkungen zu Blériot einen erstaunlichen Hinweis: „Wir jauchzten in Wien, als Blériot den Ärmelkanal überflog, als wäre es ein Held unserer Heimat; aus Stolz auf die sich stündlich überjagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wirtschaft war zum erstenmal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden“.

-- [Wir Ikarier] --



Blériot (Das interessante Blatt, 28.10.1909)

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