20. Oktober 2020

Achtsam im Dissens

Diese sinnlich nicht wahrnehmbare Bedrohung hatte nun reichlich Zeit, mit ihren Effekten in die Gemeinschaften einzudringen, einzusickern. Ich bin auf eine etwas schmerzliche Art fasziniert, wie sich das auswirkt.

Steigt der Druck auf Menschen, entfällt allerhand Dekoration. Es ist ein wenig, als wären wir Passagiere auf einem schwankenden Boot, wobei alle zu spüren bekommen, was es ausmacht, wenn sich jemand an Bord in eigensinnigen und großen Posen bewegt.


In der Enge dieser Kräftespiele kollidieren die unterschiedlichsten Konzepte, wonach die Bedrohung so oder so oder so einzuschätzen und zu behandeln sei. Da leiden wir nun das Erbe hierarchischer Gesellschaftsordnungen, wodurch alles Widersprüchliche so unerträglich erscheint.

Wenn wir in der Öffentlichkeit wie im Privaten keine Irrtümer zugeben und bearbeiten dürfen, bleibt eigentlich nur die Tyrannei als Option, um das zu simulieren, was in sozialen Prozessen eigentlich nicht machbar ist: Widerspruchsfreiheit.

Wenn wir jede Differenz und jeden Irrtum als Makel brandmarken, schrumpft der Bewegungsspielraum auf nahe Null. Ich hab keine Ahnung, wie unter solchen Bedingungen Entwicklung möglich sein sollte.

„Ich weiß es noch nicht genauer!“ wäre ein Satz, der niemandem um die Ohren geschlagen werden dürfte. Mir ist allerdings völlig klar, daß sich damit keine Wahl gewinnen ließe. In privaten Gesprächen sollte das aber möglich sein, ohne deshalb weggewischt zu werden.


Würde mich eine Schicksalshand auf völlig fremdes Terrain stellen, dessen Gefahren ich noch nicht kenne, nicht einmal die Gefahrenzeichen, Savanne oder Packeis, ich wollte mich sehr vorsichtig bewegen.

Mir scheint, der Spielraum wächst, wenn wir laufend klären, was Vorsicht konkret bedeutet, was relevante Gefahrenzeichen sind und was jene erzählen, die den Gefahren schon entkommen sind.

Stattdessen brüllen mir vielfach jene die Ohren voll, die von den Gefahren nichts wissen, ihnen noch gar nicht begegnet sind oder behaupten, da seien keine Gefahren. In solcher Gesellschaft habe ich nichts zu suchen. Ich brauche jene als Gegenüber, die nicht ins Ungewisse hinausrennen, sondern hinausschreiten, achtsam, mit Gefahren rechnend.

Das bedeutet auch grundsätzlich, ich brauche aufmerksame Gegenüber. Andere mögen auf den Klippen tanzen. Ich kenne dieses Abstürzen schon und wie es sich anfühlt, wenn das Leben zu verlöschen droht. Darin liegt bloß Schrecken, aber keine Erkenntnis.

Wie sehr mich jene langweilen, die große Posen einnehmen und große Töne spucken, so lange ihnen noch nichts widerfahren ist, so lange sie noch keine Überwältigung kennengelernt haben.

Ich fand es heuer sehr anregend, mich mit Menschen auszutauschen, mit denen ich zu einzelnen Fragen im Dissens blieb. Das ist eine schöne Erfahrung, gerade bei Dissens im Einvernehmen zu sein; ganz ohne das Bedürfnis, sein Gegenüber zu belehren.

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