1. November 2020

Emotionale Halbschuhtouristen

Über einige Monate habe ich überzeugt nein gesagt, wenn ich gefragt wurde, ob ich eine zweite Welle kommen sehe, die zu einem zweiten Lockdown führen würde. Ich war dann sehr überrascht, daß die Infektionszahlen in so kurzer Zeit derart sprunghaft hochgingen.

Leben wir nicht in einem Land mit ausreichend stabilen Verhältnissen, um genau das gut vermeiden zu können? Freilich hatten manche Menschen Pech und kamen mit dem Virus in Kontakt, weil sich nicht alle Gefahrenmomente vermeiden lassen.

Aber viele Leute haben auch noch ausposaunt, daß sie dieser Gefahr spotten. („Mir wird schon nichts passieren!“) Andere haben die Gefahrenquelle geleugnet, in Abrede gestellt, dabei demonstrativ Verhaltensweisen gezeigt, die Kontakte mit dem Virus fördern. (Als jüngst Franz Ablinger Fotos von einem Demonstrationszug in Wien gezeigt hat, fand ich die Bilder verstörend.)

Ich sehe, wir leben in Nachbarschaft mit ein paar Legionen von emotionalen Halbschuhtouristen, die mit einer unbestimmbaren Gefahr nicht umgehen können. Sie kennen das Motiv? Manche Menschen gehen in die Berge, ohne mit Wissen um Wetterzeichen, angemessenem Verhalten und adäquater Garderobe ausgestattet zu sein, denn Gegend ist Gegend und Wetter ist Wetter. Manche dieser Halbschuhtouristen haben unter einem Wetterumschwung ihr Leben verloren.

Etliche davon, weil sie von markierten Wegen abgekommen waren und sich weder zurechtfanden, noch schützen konnten. Wir wissen auch von Typen, die beim Schifahren, die Wetterwarnungen Einheimischer ignorierten oder sogar in markierte Lawinenhänge einfuhren und folglich ums Leben kamen.

Zum Glück haben wir grundsätzlich Übereinkunft, daß niemand in Not alleingelassen werden darf. Aber zurecht wird kritisiert, daß solche Geisterfahrer ihre Retter in Gefahr bringen. Das sind also in Gesellschaften vertraute Phänomene.



Gestern erneut: Lockdown-Teledrink-Session.

Ich bin überzeugt, ein wesentlicher Anteil der hochgegangenen Infektionszahlen verdankt sich solchen emotionalen Halbschuhtouristen, die auch bedenkenlos die Gesundheit anderer aufs Spiel setzen, um ihren Bedürfnissen nachzugehen. Leute mit der emotionalen Ausstattung eines Kleinkindes.

Daran ist nichts neu. Jeder sture Alkolenker, der sich weigert, im Dampf seinem Auto fernzubleiben, übt sich in solcher Rücksichtslosigkeit. Er schafft bloß nicht den Bruchteil der Trefferquote so einer Seuche.

Es hat seine schrille Ironie, daß derzeit viele „Freiheitskämpfer“, die Corona-Maßnahmen zu einer quasifaschistischen Freiheitsberaubung umdeuten, genau jene Rücksichtslosigkeit zeigen, die den historischen Faschismus einst befeuert hat.

Ich denke gerade an Heimo „The Driver“. Er neigt zu einer etwas pessimistischen Weltsicht und meint, Menschen würden hauptsächlich interessengeleitet, und zwar zugunsten des eigenen Vorteils, handeln.

Der historische Faschismus war gewissermaßen ein kollektives Fest rücksichtsloser Egoisten. Warum sind bei uns solche Systeme immer wieder zusammengebrochen? Na, vielleicht, weil die Praxis letztlich zeigt, daß nicht Konkurrenz, sondern Kooperation die Spezies voranbringt. Seit jeher.

Auch das könnte als Variante kollektiver Egoismus-Ausübung praktiziert werden. Wenn ich langfristig (!) den größeren Vorteil aus Kooperation ziehe, wäre es klug und eigennützig, darauf einzugehen.

Unsere Narrative erscheinen eigentlich unmißverständlich. Die Helden und wilden Hunde, die Haudegen, wie sie sich einsam in das Rad der Geschichte und in allerhand Abenteuer stürzen, fallen zu Tode, werden von Löwen gefressen oder von Meuten erschlagen. Sie sind kein Vorteil für die Gemeinschaft, sondern bloß Zierat für Erzählungen am Lagerfeuer.

+) Auf das Leben! Auf die Poesie!

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