30. Jänner 2021

Die Sache mit der Katharsis

Es hat nun rund zwei Jahre gebraucht, daß ich wieder Nächte erlebe, nach denen ich mich ausgeschlafen fühle. Das bedeutet auch, als wir vor rund zehn Monaten in den ersten Lockdown gingen, war ich in krisenhafte Situationen schon eingeübt.

Das ist eine Eigenheit des Kulturbetriebes. Da wird zwar der Mythos von den „individualistischen Kräften“ gehätschelt, aber wer im Betrieb keine ausreichende Anpassungsbereitschaft zeigt, ist am besten ein Genie oder geht unter.


Darum weiß ich auch, Kulturleute mit auffallend großer Klappe und rebellischer Pose sind meist Zwerge, die hinter den Kulissen an ihrer Kleinlichkeit stricken und sich dem nächstbesten Funktionär andienen. Professionals von Relevanz vergeuden keine Zeit in derlei Posen.

Ich hatte mein Untergehen in den laufenden Umwälzungen des Kulturbetriebs schon vor Jahren und in mehreren Schritten absolviert. Dann war ich mit der wohligen Erwartung in das Jahr 2020 gegangen, nun könne ich wieder ins Plus wirtschaften und würde es gesamt angenehmer haben. Aber es ist anderes gekommen und mein Schlaf wollte sich vorerst nicht erholen.

Es war von einer merkwürdigen Komik, als dann das ganze Kulturgeschehen verrieb und wir alle gegen eine Wand fuhren. Die Komik liegt vor allem darin, daß so viel an rebellischen Attitüden, von denen vorher zu hören war, plötzlich in honigsüße Gebete übergingen, in Ratlosigkeit erstarrten.


Ich sehe freilich auch, welche Wunden diese Verläufe etlichen Menschen geschlagen haben. Ich sehe, wie verstört manche sind, weil sie noch keine Übung haben, ihre Dinge zu ordnen, während die Normalität Pause macht. Ich denke, wer in diesen Vorgängen zynisch wird, riskiert zu stürzen. Und wer sich erlaubt, es an anderen auszulassen, stürzt schon.

Ich staune über das blühende Festival der Ratschläge. Ich staune überdies, daß manche, von denen ich nichts geschenkt haben möchte, sich im Beraten hervortun. Auch sonst werden mir allerhand Geschäfte aufgedrängt, die mich schmunzeln lassen.

Das Bonmot, man solle keine gute Krise vergeuden, hat mehr Gewicht als ohne weiteres auffällt. Die Krise ist ja bloß jener Umbruch, in dem wir zu klären haben, ob es nun Richtung Katharsis oder Richtung Katastrophe geht. Ich lasse hier nicht unbedacht die griechische Tragödie anklingen. Nur durch Schrecken und Mitgefühl kommen wir zur Katharsis, zur Läuterung; so die Ansicht von Aristoteles, wenn er über die Poetik nachdachte.

Das Theater war damals von komplexen Abläufen geprägt, die den Zweck hatten, daß Menschen ihren Lauf der Dinge bewältigen konnten. Das geschah nicht durch Belehrung, sondern durch das Angebot von Themen und Vorgängen, in deren Betrachtung das Publikum eigenständig zu Schlüssen kommen mochte.

Die Einlassung war der springenden Punkt. Auch daß man sich von den Erfahrungen anderer berichten läßt, sie al Anregung nutzt. Schrecken und Mitgefühl als Weg zur Katharsis…


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