14. Juni 2021

Wasserträgerei

Wenn ich von „Verschnöselung“ spreche, dann meine ich damit ein Auseinanderfallen von Meinung und Wissen. Klar, der Schnösel nennt mich „abgehoben“, wahlweise „elitär“, es kommen auch weniger freundliche Zuschreibungen vor. Dabei folge ich bloß einem simplen Prinzip. Ich hab ja auch zu allem, was mich erreicht, eine Meinung. Aber ich werde mich anderen gegenüber oder auch medial nur zu Themen äußern, mit denen ich mich eingehender befaßt hab.

Ich war vermutlich nicht immer so. Rang spielt in unserer Kultur eine enorme Rolle. Es ist daher ziemlich plausibel, daß sich jemand aufplustert, wo es an Statur fehlt. Wenn ich in dieser Frage heute zurückhaltender handle, dann sicher nicht, weil mich Moral überrannt hätte. Es hat eher pragmatische Gründe.


Seit Jahrzehnten bin ich mit Hacklern befaßt, mit Fragen nach der „Ehre des Handwerks“ beschäftigt. Bei guten Leuten ist es so: wenn du da das Maul aufreißt, wo du eigentliche keinen Tau hast, sondern nur eine Meinung, gehst du diesen Leuten sehr schnell auf die Nerven. Es ist, wie Joseph Beuys einmal notierte: „wer nicht denken will, fliegt raus. (von selbst)“

In der Welt der Petrol Heads kursiert ein amüsantes Bonmot: „Du denkst, daß Du klüger bist als Deine Vorfahren? Früher stand in der Betriebsanleitung für ein Auto wie man die Ventile einstellt. Heute steht drin, daß man den Inhalt der Autobatterie nicht trinken soll.“

Sucht sich die Klugheit bloß neue Themen und gibt alte Kompetenzen auf? Oder kann es sein, daß eine Gemeinschaft verblödet? Ich hab darüer keine Klarheit. Dank Social Media erreicht mich heute mehr Geschwätz, Gezänk, auch ausgemachte Blödheit denn je. So geht das mit der Demokratisierung von Medienzugängen.

Früher stand man gleich bei Türhütern an, wenn man den Luftraum über seinem Stammtisch verließ, um der Welt etwas mitzuteilen. Print, Radio, TV, überall Redaktions-Teams, von denen man sich bezüglich eigener Kompetenzen überprüfen lassen mußte. Das entschied dann, ob man an den Gatekeepers vorbeikommen werde oder nicht, ob man sich der Welt mitteilen dürfe oder nicht.

Heute: alles brüllt. Es genügt ein abgeschlossenes Youtube-Studium. Ich beklage das gar nicht. Mir scheint, eine Demokratie müsse damit zurechtkommen, zumal unsere Leute schon schlechtere Verhältnisse gewohnt waren.

Freilich irritiert es mich gelegentlich, wenn ich diesen oder jenen Facebook-Kontakt sehe, da gibt es jeden Tag frische Links zu irgendwelchen ergreifenden, wahlweise extrem wichtigen Artikeln, Interviews oder Videos. Also keine eigenen Statements, sondern das Ausposaunen anderer Ansichten. Dieses Heldentum des Wasserträger-Zeitalters rührt mich.

Mir wäre es schon mit dreizehn, vierzehn Jahren nicht eingefallen, daß ich mich von jemandem herumschicken lasse: Zettel kleben, Flyer verteilen, also die Botschaften anderer in die Welt tragen. So eine Art heidnische Zeugen Jehovas, die jeden ansudern, der nicht schnell genug davonläuft. Heute sehe ich gebildete Leute in derlei Posen. Wasserträgerei. Sich wichtig machen, indem man wichtige Botschaften von wichtigen Leuten ausstreut.

+) Zum Thema Handwerk siehe aktuell: „Textil, Textur, Text“!


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