24. August 2021

Backseat Driver

Wenn wir „Die Menschheit“ denken können, dann müßte es ja auch „Die Völkergemeinschaft“ geben können. Konjunktiv! Denken wir „Volk“ eher als ethnische, soziale oder rein politische Kategorie? Wir Leute aus Europa, aus dem westlich geprägten Europa, kommen schon mehr als ein halbes Jahrtausend nur sehr langsam voran, unsere Ansichten nicht a priori für global, womöglich für universell zu halten.

Als jüngst noch rund um mich viel von Kara Tepe gesprochen wurde, habe ich einmal mehr die Verträge von Tordesillas und Saragossa erwähnt: „Anno 1494 segnete der Papst den Vertrag von Tordesillas ab, welcher regelte, wie Spanien und Portugal sich die Welt zum Ausplündern teilen mußten. Im Jahr 1529 folgte der Vertrag von Saragossa, weil klargeworden war, daß die Welt rund ist, also mußten die Regionen zum Ausplündern neu definiert werden.“ [Quelle]


Wir Nachfahren von Eroberern, die sich stets ohne jede Rücksicht nahmen, wonach ihnen war, egal, wie tief die Erde dabei verbrannt wurde, haben derzeit so allerhand zu Afghanistan zu sagen. Ich lese jeden Tag erstaunliche Statements. Die Social Media quellen davon über.

Kara Tepe, Waldbrände, Mädchenmorde, Überschwemmungen, Tote in Belarus, Impfdebatten, Bodenversiegelung in Österreich, Organisationsmängel bei der Eisenbahn, kühle Drinks an sonnigen Gestaden (was wurde eigentlich aus Notre Dame?), ich hätte jeden Tag eine reiche Auswahl an Themen vor mir ausgebreitet liegen, um aufgebracht im Kreis zu rennen.

Das ist aber nicht nach meinem Geschmack. Wenn ich lese, daß jemand räsoniert, wie in Afghanistan nun „zugesehen“ werde, von wem auch immer, fällt mir auf: das war eigentlich schon vor zehn Jahren ein großes Fiasko, zu dem sich Leute in meiner Umgebung weder auskannten, noch kundig machten.

Ich denke derzeit oft an Srebrenica. Wir saßen im Juli 1995 alle auf dem Balkon wie Waldorf und Statler. Westliche Mächte hätten genug an Bodenstreitkräften und schweren Waffen gehabt, auch eine leistungsfähige Luftwaffe, um jenes Tal zu sperren, über das Mladic mit seiner Soldateska kam und schließlich tausende bosnische Männer abholte, die schließlich massakriert wurden. (Tausende! Das schafft man nicht mit fünf Autobussen!)


Bis heute konnte mir niemand schlüssig erklären, wie das möglich war und warum das geschah. Bis heute höre ich nichts über nennenswerte Konsequenzen, die wir aus dieser Erfahrung des Zuschauens vom Balkon aus gezogen hätten. Wir! Nicht irgendwer… Was haben wir wenigstens in nächster Nähe seither zustande gebracht, damit Failed States keine Fundamente haben, stattdessen die Demokratie gedeiht? (Ich werde dazu noch einige Antworten vorlegen.)

Als ich von Bratunac über Potocari diese gewundene Straße entlanggefahren war, konnte ich einfach nicht glauben, daß die westliche Völkergemeinschaft unfähig gewesen sei, dieses Tal zu sperren und den Abtransport tausender todgeweihter Männer zu verhindern. Sehen Sie sich das auf dem Luftbild selbst an: [Link]

Darüber war kürzlich wieder nachzudenken, als in Graz der präzis erzählte Film „Quo Vadis, Aida?“ von Jasmila Žbanić lief. Siehe dazu meine Notiz: „Karremans Zigarette“!

Aus Amerika hab ich einen kuriosen Begriff bezogen: Backseat Driver. Sitzt hinten und plärrt herum, wie das Auto gefahren werden soll. Ich grüble in letzter Zeit wieder viel, was es in solchen Zusammenhängen hieße, den Rücksitz zu verlassen, selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen, wohin die Reise geht.

Und das mit den Völkern, der Menschheit, der Weltpolitik, da sollten wir auch konkreter werden können, sonst bleibt das alles bloß ein Räsonieren der zwei Muppets auf dem Balkon.

+) 17. August 2021: Kabul


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