29. September 2021

Bassena regiert

Was schert mich Graz? Wenig. Seit Österreich per TCP/IP an das Internet angedockt hat, um Teil des Netzes der Netze zu werden, dachte ich, die altern Denkmuster von Zentrum und Provinz werden sich verschieben lassen. Das war Anfang der 1990er. So kam es aber nicht. Mir scheint überdies, diese alten Konzepte werden gerade reproduziert und neu eingeführt. (Ein Raum wird zum Zentrum, indem seiner Peripherie zur Provinz gemacht wird, zur Quelle von Ressourcen.)

In diesen fast 30 Jahren muß auch einiges an intellektueller Kraft verlorengegangen sein; mindestens in meinem vertrauten Milieu. Was soll mich Graz also scheren, wenn dort immer noch ein Großteil von Mittel und Möglichkeiten konzentriert ist? In Graz rührt sich nichts.

Und dann diese Tage der Unruhe, da der ÖVP-Bürgermeister demissionieren mußte, weil die Gemeinderatswahl der steirischen KPÖ die meisten Stimmen verschafft hat. Das ist freilich irritierend, aber auch erfrischend.

Facebook erweist sich einmal mehr als jene Arena, in der die großen Spiele fortgesetzt werden, das ewige Schlachtfest sich selbst feiert. Da lese ich dann von einem Theatermann: „Liebe Kleine Zeitung Graz und Umgebung komm wieder zu dir, ein bisschen mehr Analyse, etwas weniger Stimmung…“

Was meint er denn? Nein, eine Quelle wird nicht genannt, es wird auf keinen konkreten Text verwiesen. Ich frage nach und erfahre, man könne ja in der Kleinen Zeitung lesen, was gemeint sei. Aber was? Worauf zielt die Vorhaltung?

Ein Filmmensch sekundiert: „was erwartet ihr vom kleinformat an bündiger analyse, schlüssiger argumentation?? patterer & co.: genau so wehleidig wie nagl, genau so polemisch wie staberl oder jannee, genauso heuchlerisch wie kuz & seine blümerlpartie. vorwärts, genoss:innen, wir in gradec machens vor, besser vor.“ (So ein Statement kommt unter der Forderung „ein bisschen mehr Analyse, etwas weniger Stimmung…“. Lustig!)


Auch er findet es nicht nötig, a) ein Zitat in die Debatte zu bringen und b) die Quelle kenntlich zu machen, damit ich überprüfen könnte, ob korrekt zitiert wurde, auf daß ich c) den konkreten Einwand lesen und verstehen kann. So ginge Kritik. So wäre ein kritischer Diskurs zu führen, wenn er ein öffentlicher Diskurs ist. (Facebook = Massenmedium = Teil der Bühnen des öffentlichen Diskurses.)

Nun aber liken und kommentieren allerhand Kulturleute derlei Ansagen und ich weiß noch immer nicht: was genau wird da kritisiert? Das möchte ich im günstigsten Fall für Esoterik halten. Wo solcher Debattenstil sich aber länger breit machen darf, sehe ich das in einer Tradition des „Volksgerichtshofes“.

Da durfte ein oberster Richter anklagen, schnauben, wüten, schreien, und stützte sich inhaltlich auf das, was in ihm loderte sowie auf das, was er für die „Stimme des Volkes“ hielt. Beweise? Belege? Wenigstens eine konkrete Vorhaltung, auf einen konkreten Tatbestand bezogen? Nicht nötig!

Immerhin verstehe ich so die aktuelle kulturpolitische Agonie der Steiermark besser und kann nachvollziehen, weshalb wir hier mindestens 20 Jahre keinen öffentlichen kulturpolitischen Diskurs mehr haben. Die Bassena regiert.

Postscriptchen
Ich finde, an diesen Fragen führt dann eher kein Weg vorbei:
+) Was macht einen Unterschied zwischen Kritik und Denunziation?
+) Was unterscheidet den Boulevard-Stil von intellektueller Selbstachtung?

+) Quelle
+) Wachsende Unruhe (Übersicht)


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