24. Jänner 2023

Eine Verbeugung vor dem Unermeßlichen

Ich war sonntags flott losgezogen, da sich über Nacht eine frische Schneedecke auf die Stadt gelegt hatte. Meine Annahme besagte, sie könnte bald wieder weg sein. So kam es. Am Montag fiel Regen und der visuelle Reiz des vorangegangenen Wintertages sackte in schmutzige Pfützen und scheckige Schneehäufchen zusammen.

Auch gut. Ich hab ein Faible für Momente des Wandels. So renne ich stets staunend durch die Gegend und kann mich an der Welt nicht satt sehen. Zuhause weiterhin all der Archivkram und die Räumereien. Wie ich in einer größeren Stadt leicht verlorengehen, weil mir meine Auffassung von Raum merkwürdige Ansichten liefert, so geht es mir auch mit all dem Krempel in meiner Wohnung. Manchmal weiß ich nicht mehr, wo ich bin.


Jetzt habe ich gut ein Jahrzehnt gebraucht, um draufzukommen, daß ich kleine Karton-Kärtchen zuschneiden und beschriften kann, um die Schubladen diverser Blechcontainer zu markieren. Es treibt mir den Schweiß in den Nacken, so sehr mißfällt mir diese Arbeit. Sie langweilt mich. Aber sie bringt eine Struktur zum Vorschein, mit der ich meine Situation verbessern kann. (Diese Bürde des Erwachsenseins.)

Nach all den Jahrzehnten ist die Bestätigung wie in Stein gehauen: Ich bin ein Homme de lettres, in der Welt der Gedanken zuhause, bildsüchtig, mit geringem Talent, um beim Kochherd zu glänzen, bin den greifbaren Dingen ausgeliefert, die mich schweigend umgeben, als Mahnmal der Evidenz von Entropie.

Falls Sie nun diese Zeilen wenigstens zweimal lesen müssen, um davon eine brauchbare Vorstellung zu bekommen, ich denke oft Dinge, die ich selbst nur schwer rational entschlüsseln kann. In diesen Textlabyrinthen und Gedankenpalästen bin ich zuhause. Wie amüsant, wenn ich mit Menschen kollidiere, die Aufgeräumtheit ihrer Dinge und Wohnstätten sicherheitshalber einem regen geistigen Leben vorziehen.


Es tut mir leid, ich kann mir mit den alltäglich notwendigen Ordnungsbemühungen kein Leben ausstaffieren. Es genügt oft ein Satz, sogar ein interessantes Wort, schon stürmt meine Aufmerksamkeit davon und will dem Unbekannten nachgehen.

Oder Themen. Momentan sind es vor allem die Gewässer und ihre Ufer, Auen, Wiesengründe und Brüche, die Brücken und Stege, worüber ich nun mehr wissen muß. Mehr! Und mehr. Ich habe manchmal mit Menschen zu tun, die eine Unterhaltung mit mir suchen, aber keinerlei Wißbegier zeigen, egal wonach. Ich kann so einen Zustand nicht verstehen.


Wir sind in diesem Land also viele grundverschiedene Horden und Herden, einander oftmals unbegreiflich. Zum Glück ist die Welt ziemlich groß und ich bin dank Geburt in einem sehr angenehmen Winkel der Erde zum Hiersein berechtigt. Eine große Wunderkammer voller schimmernder Angelegenheiten, darunter mehrere tausend, von denen ich immer noch keine Ahnung habe, obwohl ein wesentlicher Teil meiner Lebenszeit schon verbraucht ist.

Manchmal denke ich darüber nach, wie mein letzter Atemzug zu verstehen sei. Ich ahne inzwischen, das ist womöglich der Hauch als eine Verbeugung vor dieser unfaßbaren Fülle, die da außerhalb von mir ist, ein letzter Moment der Körperlichkeit vor dem Unermeßlichen.

+) Wasserstand

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