1. April 2023

Brüche und Verschiebungen

Ich hab stets eine erhebliche Scheu, wenn es darum geht, auf der Systemebene meiner Online-Präsenz etwas zu ändern. Dabei ist das unausweichlich. In den vergangenen 30 Jahren, die ich nun solche Technologien nutze, hat sich nicht vieles, sondern alles radikal geändert. Damit meine ich die Systeme.

Menschliche Kognition, unsere Fähigkeiten zur Entschlüsselung und Verwertung von Informationen, das hat sich freilich nicht geändert und ist in einigen Aspekten noch dem Neandertal verbunden.


Aus diesem Grund beeindruckt es mich wenig, was man mir schon alles empfohlen hat, um mich auf der Höhe der Zeit zu bewegen und Reichweite zu generieren. (Wachstum als Fetisch!) Das meint etwa, Formaten wie Instagram und TikTok hohe Priorität einzuräumen. Da ich Facebook als „Salon“ nutze, finde ich dort inzwischen täglich ein Angebot an „Reels und Kurzvideos“ vor.

Ich sehe also, welche Fluten von Ramsch da für verblüffend hohe Followerzahlen sorgen. Jede Menge Schrott, mit dem man seine Zeit totschlagen kann. Die Quoten solcher Zeitvertreiber werden gerne als relevante Kriterien genannt, wenn sich in Leisten wie „Prominent getrennt“, „Reality Shore“ oder „Temptation-Island“ Leute in die Haare kriegen.

Ich verstehe durchaus, daß hier etwas Relevantes verhandelt wird. Wie erwähnt: Zeit totschlagen. Vieles von diesem Ramsch ist ohne jeden anderen Nutzen. Gut, es ist auf eine Art legitim, sich damit zu vergnügen. Das erscheint mir als ein geistiges und emotionales Equivalent zu gesellschaftlichen Phänomenen wie einst der britischen Branntwein-Krise im Zuge der frühen Industrialisierung.

Wenn man sein Leben schwer erträgt, bieten sich solche Kompensationsstrategien an. Sie sind zerstörerisch, aber unterhaltsam. Das wird auch deutlich, wenn man beachtet, daß die vorhin genannten TV-Serien, Produkte der Unterhaltungsindustrie, ein eigenes Genre bilden: Reality TV.

Und das ist zum Brüllen komisch, denn hier wird uns ja keine „Realität“ geboten, sondern professionell orchestriertes Gemetzel. Es ist die Arena. Der Circus Maximus. Gladiator und Gladiatrix tun sich keine physische Gewalt an, wenn man von etlichen Saufexzessen absieht, sie zerfleischen einander seelisch so gut es geht. „Bachelor in Paradise“, „Dating Naked“, „Forsthaus Rampensau“ oder „Kampf.der.Realitystars“, die Liste ist sehr lang.

Quote zählt
Ich lebe in einer Situation, da Kunst und Kultur nun seit Jahrzehnten zu Mägden des Marketings gemacht werden. Dem fügen sich viele meiner Kolleginnen und Kollegen, schließen sich solchen Vorgangsweisen an. Ich nehme das zur Kenntnis, denn Einwände sind nicht möglich und Kritik wird in der Steiermark sogar mit Klagsdrohungen beantwortet. So manifestiert sich eben ein Teil des Regelbetriebs.

Selbstverständlich muß man sich solchen Trends nicht fügen. In Nischen ist Selbstbestimmung realisierbar. Ich ordne gerade meine Online-Präsenz neu, lege den Schwerpunkt augenblicklich mehr auf die Website von Kunst Ost, um so die Übergangsphase zu gestalten. Dabei sind mir im Moment kulturpolitische Themen wichtig sowie der Neofaschismus-Komplex. (Wir gehen auf den 8. Mai zu.) Was die Kunst angeht, nehme ich Umwege über die Natur, über die „Matrix der Gewässer“.

Es ist wieder einmal Zeit, mit etlichen Bezugspunkten zu brechen und Verschiebungen hinzunehmen. Da paßt mir meine „Lawinen-Metapher“: Ist eine Lawine erst einmal losgebrochen, kannst Du versuchen sie zu surfen oder sie wird dich verschlingen.

+) Kunst Ost: wöchentliche Übersicht