9. Oktober 2023

Landkarten der Bedeutungen


Bahnfahrten bedeuten für mich unter anderem, daß man kaum etwas anderes tun kann, außer zu lesen und aus dem Fenster zu schauen. Das finde ich eine wunderbare Kombination im Verbringen von Zeit.

Ich brauche insgesamt viel Stille und mag es dann aber auch, mitten in diese merkwürdige Aufgeregtheit zu geraten, die einen Eisenbahnwaggon oft ausfüllt. Klänge und Stimmungen einer Reisegesellschaft, die nichts eint, außer diesen Zug zu nutzen.



...die Matrix der Gewässer kreuzend.

Von Gleisdorf nach Judenburg zu gelangen ergibt drei Stunden Fahrt mit zwei Umstiegesorten, Graz und Bruck. Eine Autofahrt würde etwa die Hälfte der Zeit fordern, bindet einen aber umfassend, da hat dann sonst wenig Platz.

Außerdem habe ich zuhause nicht annähernd so komfortable Sitzmöbel, wie sie mir aktuelle Zuggarnituren bieten. Ich war wochenends unterwegs, um in der „Langen Nacht der Museen“ eine weitere Session im Puchmuseum Judenburg umzusetzen.

Kurioses Detail: Das Grazer Museum im Stammwerk von Johann Puch war in diesem Zusammenhang geschlossen. Egal! Die eher jungen Geschichte der Entwicklung von „Wunderkammern“ der Aristokratie und des hohen Klerus zu mehr oder weniger geordneten Museen für das Volk, ist erst ab der Französischen Revolution darstellbar, also ab dem späten 18. Jahrhundert.




"Schöner wohnen" für einen Proletarier ;-)

Auf diesem Weg konnten unsere Leute dann nach 1848 wenigstens formell Auswege aus der Rolle der Untertanen suchen. Dieses Ringen um die Wandlung eines Imperiums in einen modernen Nationalstaat hat über Verdun, Auschwitz und Srebrenica geführt.

In all dem ist die soziale Revolution der Veränderungen persönlicher Mobilität durch eine Verbreitung preiswerter Kraftfahrzeuge fast ein nettes Kapitel. Das hat markante Abschnitte und die Scooter-Story, die Geschichte der Motorroller, ist einer davon.

Das interessiert mich heute unter anderem in einem sozialgeschichtlichen Zusammenhang und als Teil einer Volkskultur in der technischen Welt, wie sie Ethnologe Hermann Bausinger vor mehr als einem halben Jahrhundert beforscht und beschrieben hat.



Buch vor Smartphone, eine antiquierte Pose!

Naheliegend, daß ich in all dem auch Querverbindunden zum Kunstfeld finde, beziehungsweise derlei Themen in meinem bevorzugten Triptychon festmache: Volkskultur, Popkultur, Gegenwartskunst. Das ist übrigens auch Teil meiner Arbeit an unserem „Archipel“, einem Beispiel kollektiver Wissens- und Kulturarbeit in der Provinz, also abseits des Landeszentrums. (Provinz muß ja nicht provinziell heißen.) Es geht mir darum, unsere Landkarten der Bedeutungen allenfalls zu aktualisieren.

Naheliegend, daß zu meine Lektüre auf dieser Judenburg-Fahrt erneut Roland Barthes gehörte. Seine kleine Textsammlung „Mythen des Alltags“ pendelt zwischen launigem Plauderton und komplexen Gedanken, die ich mir alle paar Jahre wieder vornehmen muß.



Ich übe mich weiter im Lesen der Auenstreifen..

Ich denke, im Grunde war Roland Barthes samt seinem überaus scharfen Verstand womöglich ein sehr lustiger Kerl. Er schafft sanfte Ironie, wo andere mit verletzendem Zynismus zuschlagen würden. Etwa wenn er sich kurz jenen widmet, die es nicht der Mühe wert finden, ihre große Klappe mit etwas an Inhalten zu hinterlegen.

Oft ist es bei ihm dann so einen Satz, der mir überaus gegenwärtig vorkommt: „Das Denken darf sich nicht all zu viele Freiheit herausnehmen, die Welt ist voller verdächtiger und nutzloser Alibis, man muß sein Urteilsvermögen kurz halten und die Leine auf das Maß eines berechenbaren Realen reduzieren.“ (Wer jetzt aufzeigt, wird es wohl gewesen sein!)

+) Scooter Session (Judenburg)
+) Archipel (Ein Vorhaben)