martin krusche: texte


Passagen

Zuerst kommen die russischen Krähen auf die ausgelaugten Felder. Dann kommt die Kälte ins Tal. Sie verbleibt nie auf meiner Haut, sondern dringt in meinen Leib, bringt die vernarbten Brüche zum klingen. Ich ertrage es jedes Jahr weniger, aber sicher noch eine Dekade lang, auf dieser Seite der Lebendigkeit zu flanieren. Im Eintauchen. Wo für Momente oder Stunden der Schmerz gekostet werden kann wie herber Wein, wie bittere Schokolade. Ein eigentümlicher Genuß, der Erfahrung und Konzentration verlangt. Als würde man mit wunden Fingern eine stachelige Frucht pflücken.

Das Abgleiten aus der Hitze spröder Sommer. Das Durchlaufen von Regenzeiten. Schmales Gepäck. Sekunden der Atemlosigkeit im Geruch von erhitztem Öl. Geduckt auf meinem lächelnden Dämon. So schlage ich manchmal Keile in die Kälte. Bevor das Eis kommt.

Der Rand des Eises ist die Demarkationslinie, die dem Jahr eine Kluft beschert, über die ich heute nicht mehr springe. Nur bis dahin führen diese Spuren, auf denen einen die Wucht des Drehmoments durch die Landschaft drückt. Aus 750 ccm gespeist, in rote Schalen gehüllt, von inspirierten Ingenieuren vorzüglich ausbalanciert.

Ich habe Jahrzehnte damit zugebracht, mich auf viele Arten in diesen Zuständen zurechtzusetzen. Was einem die Sinne flutet, lädt das Fleisch mit seltenen Substanzen auf. Ob einen die Hitze kocht oder die Kälte peinigt, ob man in wohlige Zustände getaucht ist und Düfte auf einen einströmen, es ist eine bleibende Anspannung hinter einem Punkt zwischen den Augen, die einen an messerscharfen Linien entlang führt. Gelöstheit die einen dieser fremdartigen Physik übergibt, auf die jede Faser des Leibes reagiert.

Ich habe für diese Art des Flanierens gelegentlich hohe Preise bezahlt. Habe dafür geblutet, Fleisch aus meinem Körper drangegeben, als steckte ich in einem Handel aus Shakespeares Träumen. Ich lächle müde über das Geschwätz der Stutzer, die von einer Freiheit auf zwei Rädern faseln. Aufgeplusterte Leute, die ihre Eisen bei nahendem Schlechtwetter wegräumen. Deren Gerede genau das zu bannen versucht, worum es eigentlich geht. Das Gegenteil von Freiheit. Denn ich hänge am Haken. Seit unzähligen Jahren. Wenn es mit sturem Grollen zu den Pässen hinaufgeht. Wenn es, was zu den schmerzlichsten Dingen gehört, im frühen Winter durch eine Nebelbank geht. Wenn es unter hoher Sonne an glühenden Feldern entlanggeht. Wenn Müdigkeit und Anstrengung an einem zerren und an der Eleganz der richtig gefahrenen Linien rütteln. Wenn etwas schiefgeht und der Weg zurück ein Stolpern aus Zonen des Schreckens ist. Wenn also die Normalität Pause macht.

Begleitet vom Kopfschütteln vernünftiger Menschen. Im Kontrast zu ihnen, durch die Schatten, deren Konturen besagen: Das bin ich. Ein Anderer. Manchmal mir selbst fremd und mir aus dieser Fremdheit zurückgegeben. In einem Vexierspiel von Unschärfen und Klarheiten. Das bin ich. Ein Flackern in dieser Welt. Ein Singen der Sinne. Ein Blühen, das Verlöschen ahnt. Ein Rauschen ...


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17•06