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„Balkan heute“
Von Karl Kaser

Eröffnungsvortrag zu
„next code: exit“
im Rahmen von „steirischer herbst“ 08
Mittwoch, 14. Mai 2008, Gleisdorf

Es ist kein Geheimnis, dass Europa und die europäische Zivilisation außerhalb Europas geboren wurden. Ihre Grundlagen wurden in einem langwierigen Prozess vor rund 5000, vielleicht vor 6000 oder 7000 Jahren geschaffen. Europa wurde dort vorgeformt, wo heute die US-Administration einige der „Schurkenstaaten“, die die westliche Zivilisation zu bedrohen scheinen, identifiziert hat – etwa im Irak und in Syrien. Im Nahen Osten entstanden vor etwa 5000 Jahren die Grundzüge unserer Schriftkultur, der Hydraulik, der Mathematik, der Physik, der Philosophie – nicht davon zu sprechen, dass hier die drei großen Weltreligionen des Judentums, des Christentums und des Islam ihre spirituellen Wurzeln haben. Darüber hinaus wurden hier vor Tausenden von Jahren die Prinzipien unserer heutigen Universitäten und unserer kreativen Künste erdacht und weitergegeben. Der Nahe Osten und der Balkan vermittelten unzählige Kenntnisse aus dem Inneren Asiens, speziell aus China auf den noch „unzivilisierten“ Erdteil, der später Europa genannt werden sollte. Die Weitergabe unendlich vieler Wissenselemente und Fertigkeiten erfolgte in diesen frühen Jahrtausenden natürlich langsam – gemessen an den Geschwindigkeiten heutiger Daten-Highways.

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Aber sie erfolgte – und die ersten Regionen des späteren europäischen Kontinents waren die Balkangebiete, die sich diese aneignen konnten. Denken wir an die Minoische Kultur, die auch auf dem Balkan und Teilen Osteuropas Verbreitung fand, an die frühen griechischen Stadtstaaten und an das Reich Alexanders des Großen, das von hier im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung seinen Ausgang nahm und seine östlichen Grenzen am Indus fand. Der Nahe Osten und der Balkan, das Gebiet des östlichen Mittelmeeres, ersannen vor langer Zeit das, was später als Europa bezeichnet werden sollte.

Heutzutage sprechen Intellektuelle davon, dass der Balkan im Begriff sei, nach Europa zurückzukehren. Welch ein absurder Gedanke! Das, was wir heute abschätzig als Balkan bezeichnen, war und ist – zusammen mit seiner nahöstlichen Partnerregion - im Grunde genommen viel mehr Europa als das Europa der EU -, allerdings eines, das scheinbar den Anschluss gegenüber den vorpreschenden west- und zentraleuropäischen ökonomischen und politischen Kräften im Laufe der Geschichte verpasst hat.

Darüber ließe sich trefflich und intensiv nachdenken. Ich bin ein gelernter Historiker, möchte Sie dennoch nicht langweilen, indem ich Sie mit Jahreszahlen quäle. Auf meinen unzähligen Reisen in die Balkangefilde habe ich gelernt zuzusehen und die Ergebnisse der konfliktreichen historischen Entwicklungen auf mich wirken zu lassen. Ich sehe mich daher auch als Anthropologe, der Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften im Hier und Heute zu verstehen versucht. Es ist unmöglich, das Universum gegenwärtiger Balkanrealitäten in ein enges Referatsformat zu pressen. Ich wähle daher drei mir signifikant erscheinende Blickwinkel aus und werde im ersten Abschnitt über „Freundschaft und Feindschaft“, im zweiten über das „Tagtägliche Überleben“ und im dritten über den der Region zugeschriebenen „Nationalismus“ sprechen und diesen mit der Fremdenfeindlichkeit in Österreich kontrastieren.

1) Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan

Die Formen von Freundschaft und Feindschaft sind auf dem Balkan ausgeprägter entwickelt als sonstwo in Europa. Die Zuordnung der Anderen zu den Feinden oder Freunden beiderlei Geschlechts war und ist eine erfolgreiche identitätsbildende und daher wirksame Maßnahme. Je nachdem unter welcher Perspektive das Problem betrachtet wird, ist die Trennung der beiden Gruppen scharf oder unscharf. Die Kategorie „Verwandtschaft“ beispielsweise lässt nur ein Entweder-Oder zu. Die Kategorien „Religion“ oder „Nation“ lassen es grundsätzlich zu, dass man nicht zur Gruppe der Freunde gehört, aber deswegen muss man nicht notgedrungen als Feind kategorisiert werden. Lange Friedenszeiten lassen die Gruppe der Freunde anwachsen; Zeiten des Krieges polarisieren und lassen Feindschaft gedeihen.

Das zwanzigste Jahrhundert hat dem Balkan und seinen Menschen nicht viel Gutes beschert: Krisen, militärische Interventionen, viele Kriege, Millionen an Kampfestoten, Verstümmelten und schmerzlich in der Seele Getroffenen. In den Erinnerungen der Menschen nehmen Hass und Trauer übergroßen Raum ein – auch wenn sie darüber gewöhnlich nicht gern sprechen und dies möglicherweise nicht vor sich selber zugeben mögen.

Viele fragen sich, wieso und weshalb? Woher dieser Hass, diese Gewalt und diese scheinbar unüberbrückbare Feindschaft zwischen den Menschen und Nationen des Balkans? Eine Antwort darauf zu finden, ist ebenso wenig einfach, wie eine solche auf die Frage zu finden, weshalb viele Menschen im Westen Europas denken, dass Balkanmenschen grausamer und unzivilisierter seien als sie selber. Natürlich sind sie weder grausamer noch unzivilisierter. Sie hatten in der Geschichte und haben in der Gegenwart ihr Leben unter teilweise anderen Rahmenbedingungen zu gestalten als Menschen anderswo.

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Textauszug! Den kompletten Text finden Sie HIER als RTF-Datei (107 kb) zum Download.
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