log #171: slow motion | leader

Da war nun das Zitat im vorigen Eintrag (Böhringer/Luhmann): "Das soziale System Kunst" ... es gibt an dieser Stelle keine Notwendigkeit, mit voller Wucht in die Bereiche Soziologie und Philosophie zu gehen. Aber auf der praktischen Ebene ist doch immer wieder zu klären, was eigentlich Gegenstand von Verhandlungen ist, wenn für die Gegenwartskunst mehr Präsenz, mehr Gewicht, mehr Ressourcen gefordert werden.

Die Abkürzung in dieser Frage führt über den angeblichen Rebellen, den Bohemien ... verstaubter Bestand aus dem Ensemble einer in die Jahre gekommenen "Staatsoperette". Das "Rebellen-Prinzip" ist simpel und verlockend. Warum? Es ist seit langer Zeit gut eingeführt. Es suggeriert noble Distanz zum "Establishment" und damit zur anspruchsvollen Komplexität einer Massengesellschaft.

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Der gegenwärtige österreichische "Kunst-Rebell", wie ich ihn gelegentluich kennengelernt habe, Frauen sind mir in dieser Klamotte nicht begegnet, genießt zwar alle Annehmlichkeiten des wohlhabenden Landes, inszeniert sich aber in der Rolle des "Außenseiters", des Draußenstehenden; das präzisere Wort dafür würde vielleicht "Dissident" lauten.

Sie ahnen schon, ich schreibe hier nicht über jene radikalen Personen, die sich tatsächlich GEGEN all das stellen, was an dieser Gesellschaft zu kritisieren wäre. Rebell sein meint im Grunde, sich kriegerisch gegen ein System und seine Wachmannschaften zu stellen. (Ein Salonheld oder Kaffehaus-Casanova ist kein Rebell!)

Ich behandle hier kurz jene operettenhaften Figuren, die sich exzentrisch geben, die sowas zuweilen auch durch das Tragen lustiger Hüte ausdrücken, die ihren Status polieren, indem sie eine Kerl-Nummer aus Groschenromanen vorführen.

Das ist heute längst eine gute etablierter Stereotypie im volkstümlichen Kommerz-System. Solcher Schmonzes (siehe nebenstehende Headline!) wird leider in unseren Medien unreflektiert weitergetragen, promotet.

Nebenbei bemerkt: Die "Abteilung musikalische Flachware" überlagert längst alles, was an einer breiteren Debatte über die Vorstellung von "Volkskultur" denkbar wäre.

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(Quelle: "Kleine Zeitung" vom 25.7.2009)

Davon sind landläufige Auffassungen von Kultur und Kunst stark geprägt. Dazu eine kuriose Fußnote. Martin Schachner von "cast" hat reichlich Erfahrung mit der Beschallung großer Veranstaltungen aller Arten, so auch vom Schlahtengetümmel volkstümlicher Musik, einen Papstbesuch in Österreich eingeschlossen. Ich habe Schachner im Grazer "MedienKunstLabor" kennen gelernt: [link]

Er erzählte mir von derlei Top Acts volkstümlicher Musik, Namen seien hier ungenannt, weil das natürlich klagbar wäre, die sind, so Schachner, mit sehr viel Playback unterwegs und musikalisch so schlecht beinander, daß sie ihre eigenen Nummern selbst nach Jahren nicht live spielen könnten. Manche der Top Acts müssen allein schon handwerklich betrachtet als Bodensatz gelten, als Auswurf einer Unterhaltungsindustrie, die es sich nicht leisten könnte, etliche ihrer Liebkinder "unplugged" in einen Club zu stellen.

Fake, Klamotte, Illusions-Geschäfte ...

Zurück zum Kunstfeld, das ja stellenweise gleichermaßen dubios bevölkert wird. Die schlampige "Ins Geschäft-Drängerei" hat allerhand kuriose Erscheinungsformen, von denen die Situation mitunter dominiert wird. Die unterhaltsame Pausennummer "Es bellen die Rebellen" stützt sich auf eine romantische Vorgeschichte.

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Thomas Nipperdey hat das in seinem Essay "Wie das Bürgertum die Moderne fand" (Siehe Eintrag #155!) beschrieben. Abenteurer "zwischen Boheme und Salonhelden", die "Unbürgerlichkeit" vor sich hertragen, "Künstlerebellen" mit einem Hang zur "Bürgerschocklust".

Wer das heute operettenhaft zelebriert, knallt gegen ein triviales Problem der Gegenwart. Ein breit gestreutes, passabel situiertes Klein- und Sonstwiebürgertum steht in einer Summe von Handlungen längst derart hart im Kontrast zu all dem, was man sich -- positiv konnotiert -- unter "Bürgerlichen Tugenden" vorstellen könnte, daß deren (medial aufleuchtendes) skandalöses Verhalten vom Feld der Kunstschaffenden her kaum übertönt oder überboten werden kann.

Da sind etwa soziale Auffälligkeiten und Boulevardgrößene im Stile einer Jeannine Schiller und eines Richard Lugner. Deren "Verhaltensoriginialität" kann in einer "antibürgerlichen" Attitüde kaum unterlaufen werden. Dazu kommen jene exzentrischen und teils monomanischen Personen, die ganz banal unsere Republik ausplündern, wovon ein Teil sich durchaus auf dem Boulevard ins Bild drängt, andere sich gut verborgen halten.

So verläuft ein breiter Horizont des Sonderbaren, vor dem ein "Künstler-Rebell" mit komischem Hütchen bloß einen sehr kurzen Schatten wirft.

Auch im Reich des Pathologischen haben während der letzten Jahrzehnte Habenichtse (Blauensteiner, Unterweger) und situierte Bürger (Fritzl, Prikopil) alles übertroffen, was ich je bei Kunstschaffenden an Schmerzlichem erfahren konnte.

Es muß sich jemand also schon sehr weit aus dem Fenster lehnen, falls sich daraus ein Outcast oder gar Outlaw im Kunstkontext ergeben soll. Der "Freak" als "Antibürger"? (Gähn!) Gemäß dem Ersten Hauptsatz des "Steirischen Buddhismus" (Goofy Schmidt), der lautet "Mir wurscht!", erlaube ich mir, das Thema "Künstler-Rebellen" hier knapp zu halten.

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Ich meine mich zu erinnern, daß es Michaela Zingerle war, die dazu während "styrian summer art" [link] in Pöllau grinsend einen Zweiten Hauptsatz des "Steirischen Buddhismus" formuliert hat: "Es is' wie's is'."

Was wollte ich mit all dem eigentlich sagen? Ich verstehe "Das soziale System Kunst" als ein Feld menschlicher Gemeinschaft, wo ich nicht bloß als Künstler, sondern auch als Bürger und Mitmensch präsent bin. Es gibt da also keinen "a priori Sonderstatus", welcher Kunstschaffenden zukäme, bloß weil sie Kunstschaffende sind.

Sowas sind dumme Phantasien, das ferne Echo aristokratischer Haltungen, in denen das Konzept vom "Gottesgnadentum" durchschimmert. Sowas hieße: Zurück hinter die Renaissance!

Fußnote:
Was wäre das denn heute, Bürgertum und bürgerlich? Ich wurde von einem regionalen Zeitungsherausgeber eingeladen, dieses Thema in seinem Blatt zu erkunden. Hier der erste Beitrag zum Thema: [link]

[slow motion: übersicht]


coreresethome
32•09

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