Blatt #90 | KW 29/2020

Helden, Spießer und Stimulanten

...sind ein paar der Rollenkonzepte, die unter anderem über Kraftfahrzeuge inszeniert werden. Autos und Motoräder waren nie bloß Transportmittel. Sie sind von Beginn an ebenso mit anderen Inhalten befrachtet worden. Dabei wurde das Automobil zu einem Generalfetisch des 20. Jahrhunderts und zum prominentesten Produkt der Ära Stahl und Kohle. Da scheiden sich dann Geister und Wege. Wer ist real und wer ist fake?

Das alles hat verschiedene Subkulturen beflügelt. Dabei sind zwei Hauptmotive hervorstechend: der ständige Wunsch nach mehr Motorkraft und der Wow-Effekt beim Auftritt. Ich hab in meinen Notizen zum Saturday Night Cruising vom Juli 2020 das Thema Muscle Car erwähnt, weil ein Dodge Coronet und ein Dodge Dart auf dem Set erschienen waren. [Link]



Beginn der Muscle Car-Historie: 1949er Oldsmobile Rocket 88,
als Buck Baker's Stock Car dekoriert.

Die entstammen einer Szene, vor welcher Hot Rods und Custom Cars auf den Straßen Amerikas liefen. Das verzweigte sich im Laufe der Geschichte unter anderem Richtung Drag Strip (Beschleunigungsrennen) und Beton-Oval (Stock Car-Rennen), was auf Trends im Alltag zurückwirkte.

Dem ging voraus, daß einerseits der frühe Autorennsport und andererseits die Jagdfliegerei des Ersten Weltkriegs Wechselwirkungen hatten, dabei die visuellen Codes der Kraftfahrzeugwelt bis heute beeinflussen.



Ein bißl Customizing: Cadillac Leichenwagen mit Sonderlackierung,
Spezialfelgen und einigen weiteren Accessoires.

Motorkraft und optische Erscheinung. Selbst völlig biedere Bürgerkäfig werden heute mit Stilelementen aus dem Rennsport aufgebrezelt und mit Soundsystemen gepimpt, damit sie nach brachialen Automobilmonstern klingen. Klebefolien und Sound-Systeme ersetzen handwerkliches Geschick und leistungsfähige Komponenten.

So wirbt etwa ein Betrieb für „Active-Sound-Nachrüstsysteme“ mit der Versprechung: „Er klingt blubbernd, aggressiv und voluminös. Es stehen 10 Soundfiles per App zur Auswahl.“ Damit kauft der Stutzer ein Äquivalent zur Socke, die sich manch einer in die Hose stopfen mag, um eine mächtige Ausstattung zu simulieren.



Substanzielles Customizing: 1957er Ford Ranchero, tiefergelegt,
mit Top Chop, also mit abgesenktem Dach.

Dazu die dreiste Behauptung „Mehr Sportlichkeit erleben“ wodurch sich die Pose offenbart. Simulations-Kram. Dreh dem Stutzer alle Fahrassistenz-Systeme seines Autos ab und er kann schon mit 90 PS die Sportlichkeit seines Wagens erleben. Ob er selbst da mithält, ist eine andere Frage.

Zurück zum eigentlichen Thema. Customizing ist ein Modifizieren von Fahrzeugen, ihr individuelles Anpassen an eigene Vorstellungen. Das meint primär die optische Erscheinung. Freilich ist es auch oft mit tieferen technischen Eingriffen verbunden.

Der Begriff Hot Rod ist auf modifizierte Fahrzeuge angewandt, aber hier noch ergänzt um eine nennenswerte Leistungssteigerung des Motors. Der Hot Rod („Heißer Pleuel“) hat also prinzipiell „more power“. Das sind in der Geschichte überwiegend kompakte Fahrzeuge, keine Fullsizer. Also hauptsächlich T-Buckets, diverse Coupés, kleiner Pickups etc.



Heftiger Hot Rod: V8-Triebwerk mit aufgesetztem Kompressor (Charger)

Als Fullsizer gilt ein Yank Tank, wenn er fünf Meter Fahrzeuglänge erreicht hat. Das ist eine wunderbar große Bühne für Customizing. Low Rider machen sich da auch sehr gut, also Autos, die hydraulische Fahrwerke haben.

Das heißt, die Karre kann im Stand auf eine Bodenfreiheit nahe Null abgesenkt werden. Außerdem läßt sich jedes Rad einzeln ansteuern. Dadurch ist es möglich, den Low Rider hüpfen und tanzen zu lassen.

In Österreich sind solche subkulturellen Moden extrem eingeschränkt, weil es kaum gelingt, für so exzentrische Variationen eine Straßenzulassung zu bekommen. Es ist aber nicht völlig ausgeschlossen. Und dann bleibt immer noch die Optionen, seinen Show Star per Trailer zu einer Veranstaltung auf Privatgrund zu bringen.



Hot Rod auf Basis des Ford Model A Tudor Sedan: umfassend
modifiziert, mächtiger Motor, optimiertes Fahrwerk.

Muscle Cars sind ein eigenes Genre, das einst von der Autoindustrie zu PR-Zwecken kreiert und beworben wurde. Das betraf vor allem einmal die für US-Verhältnisse eher kleinen Sportcoupés, denen man mächtige Kraftwerke implantierte.

Ein V8 mit fünf bis sieben Litern Hubraum und Dampf von 300 PS aufwärts fordert freilich auch Verbesserungen am Fahrwerk, damit die werte Kundschaft nicht gleich ins Jenseits abfährt. Dieser Trend ergab archaische Automobilmonster, die– frei von EDV-gestützer Fahrassistenz – für Durchschnittspiloten nicht beherrschbar sind.



Ende der 1960er: Dodge Charger R/T (Road/Track),
eine Ikone der Muscle Car-Ära.

Die jungen Schnösel und andere Bourgeoisie steigt dann lieber in ihren aufgemotzten Kombis von Audi oder BMW, lassen den Computer dafür sorgen, daß sie nicht gleich aus der nächsten Kurve fliegen, lassen ihr Soundsystem gefährlich klingen.

Bei wem es dafür nicht reicht, der macht es mit einem kleinen Hatchback, einem preiswerten Seat oder einem günstigen Asiaten. Verschiedene Welten und Konzepte. Falls Sie nubn fragen, in welcher Liga ich stehe, mein letztes eigenes Auto war ein Polo Kombi. Aktuell fahre ich elektrische Leihwagen und bin vor allem ein sehr talentierter Beifahrer.

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