debatte: literatur


Von: perspektive berlin mcsnake@perspektive.at
Betreff: FW: passatismus passatus - diskurs 0003
Datum: Sonntag, 27. April 2003 01:54

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lieber werner

LANGWEILIG
langweilig nenne ich was ich für uninteressant halte. du hast tatsächlich 'uninteressant' geschrieben, richtig.. ich korrigiere also: bitte an den 3 stellen 'langweilig' durch 'uninteressant' ersetzen

KONVENTION
ob 'konventionelle' schreibe fad & gestrig sei: ein weites feld... vermutlich im gegensatz zu helmut lese ich zuweilen in derart faden publikationen, bestreite ihnen also schon im eigenen interesse das daseinsrecht nicht. was die gewitztheit der konventionen angeht, habe ich aber bei so manchem deutschsprachig-konventionellen den eindruck, dass sie den konventionen nicht mehr genügen können: was beimirzulande z.b. unter pop durchgeht, ist meistenteils pubertätsphantasie, von lektoren zu 'romanen'zusammengestrichen - ein anderes feld..

aber: konventionelle literatur hat stets bestanden & bestand. erzählen geht immer, für das erzählen muss also in zeiten schwindender attraktivität abstrakten denkens kaum gekämpft werden; über marktbeherrschende stellung von konventionell-erzählender literatur werden wir nicht streiten müssen. anders liegt das bei text, der die geläufigsten konventionen bricht (nichtlinear, nichtmimetisch, nicht-subjektzentriert etcetc): für diesen einzutreten heisst ja nicht per se, das konventionelle aus den regalen räumen zu wollen..

was tatsächlich stattfindet ist das gegenteil: die 'jungen' konventionellen, die am buchmarkt bestens gehandelt werden, sind es, die vehement gegen eine nahezu verschwundene avantgarde polemisieren. interessant wird die gebetsmühlenhaft behauptete überwindung der avantgarde durch die konvention eben hier, wo sie von einer generation betrieben wird, die früher vermutlich in den reihen der avantgarde - im österreichischen fall unter den schwingen der avancierten, da, einem wiener archivar nach, "österreich keine avantgarde braucht, weil es einen karl kraus gehabt hat" - sich versammelt hätte. mit besonderer verve sucht diese generation zuflucht in einer form, die mit den mitteln der konvention ein wenig diese selbst, vor allem aber alles darüber hinaus parodiert, eine übrigens für 'szenen' in 'postideologischen' konsumgesellschaften typische 'distanzierungsform' (tita von hardenberg, 'polylux'-moderatorin, schreibt zur szene in berlin-mitte gerade ebenso ironisch:"...das Styling der echten und falschen Szeniasten hatte immer schon viel mit Ironie zu tun. Zu meiner Freude haben sie endlich aufgehört, die Vokuhila-Matte und den Schnauzbart zu ironisieren."). was bedeutet, dass diese 'konventionelle' schreibe eben nicht geradlinig konventionell ist, sondern bestenfalls neo-konventionell (oder wie immer sonst man das nennen mag), denn: "Tatsächlich sind derartige Rückwendungen immer scheinhaft, weil sie von dem, was sie wiederfinden, getrennt sind durch den negativen Bezug (wenn nicht gar die parodistische Absicht) auf etwas, was selbst die Negation (der Negation der Negation usw.) dessen war, was sie wiederfinden." (bourdieu, in den 'regeln der kunst').

aus demselben grund ist das, was vielleicht in p versucht wird, auch nicht geradlinig 'avantgarde' (oder, von dir aus betrachtet, das klägliche scheitern derselben), sondern das bewusste wiederaufgreifen von - auch für uns zwiespältigen - avantgarde-konzepten unter neuen bedingungen, zu denen auch die reaktionen auf die historischen avantgarden zu rechnen sind...

PASSATISMUS
der vom futurismus geprägten gegenbegriff, der alle spielarten von ästhetik bezeichnet, die nicht mit der technischen transformation der sozialen und kulturellen umgebung mitgehen, bezeichnet eine trennlinie: das aufkommen von autonomen maschinensubjekten (ob es torpedos sind oder maschinengewehre oder fliessbänder oder oder) verändert laut futurismus die erfahrungswelt derart, dass eine ausblendung solcher technischen bedingungen aus dem kunstschaffen eine bewussten entscheidung (nämlich: die verweigerung von wesentlichen teilen der erfahrung) bedeutet: also passatismus, sich noch-nicht-befreit haben von den denk- und empfindungsgewohnheiten einer lebenswelt, die mit dem aufkommen von industriegesellschaften, industriell gefertigten tötungs- & wunschmaschinen (z.b. automobile, flugzeuge, aber auch künstliche reproduktion, wie in 'mafarka der futurist') untergegangen ist.. (ich erkläre uns hier nur den begriff, ohne ihm damit schon zustimmen zu wollen). passatismus ist im übrigen auch in die alltagssprachgebrauch des italienischen eingewandert..

IGNORANZ
also p verbiete - metaphorisch - das face-to-face-gespräch, weil es telefone gibt, in p-typischer futuristischer verblödung? und zwei abschnitte später bist du es, der die literatur aufs kissen legt, weil es videoclips gibt, oder java-animationen..?

PASSÉ
mir selbst liegt fern, irgendjemandem das schreiben bestimmter formen von literatur vorschreiben zu wollen. ich nehme aber das vorhandensein von formen als ausdruck bestimmter verhältnisse, die beschreibbar sind. wenn in den von dir zitierten passagen helmuts eine latente aggressivität hervortritt, so stimme ich dir darin zu. aber beklagt sich helmut wirklich, dass niemand bei ihm nachfragt, wie geschrieben werden dürfe?

oder beschreibt er, dass die als eigenständig deklarierte wahl der mittel unter umständen nicht eigenständig ist, wenn sie letztlich vorgaben des marktes & die aktuellen moden allzu genau abbildet? einer schreibvorschrift - durch wen immer - würde ich mich als erster widersetzen. die auseinandersetzungen p's mit einigen avancierten schreibhaltungen z.b. initiierten wir, weil wir in deren positionen eine verkürzung, formvorschrift, zugunsten der kanonisierung sahen..

ich denke im übrigen, ich brauche dich nicht wirklich davon zu überzeugen, dass helmut keinen totalitären machtanspruch in ästhetischen fragen formuliert: dafür kennt ihr euch doch eigentlich gut genug... dass die redakteure der literaturzeitschrift perspektive die auswahl von texten, die dort publiziert werden, nach kriterien betreibt, die das eigene selbstverständnis abbilden, genügt hoffentlich nicht, um als totalitär zu erscheinen? um es nochmal zu sagen: es geht nicht darum, jeglicher literatur ausserhalb von p das daseinsrecht zu bestreiten, wie du uns offen unterstellst.. ich finde diese (schon meinem essay damals in der schreibkraft nachgestellte) unterstellung gewagt, um sie nicht bösartig zu nennen..

OBERLÄNGEN
dass literatur als medium gesellschaftliche relevanz eingebüsst habe, ist eine nicht sonderlich fundierte behauptung. sicher lässt sich nachweisen, dass zur zeit der deutschen romantik die ausgaben für bücherkauf jene zum erwerb von damenunterwäsche unterschritten: besagt ein derart komerzieller wert etwas über relevanz? oder besagt er nur, dass der hier von relevanz sprechende die dimension von relevanz offensichtlich aufs ökonomische verkürzt?

zu fragen wäre, ob z.b. vorstellungsbilder in entscheidungsprozessen nicht bis zum gegenwärtigen zeitpunkt von literaturen geprägt werden (die existenz von büchern, die identitätshilfe bereitstellen, oder uns 'xy für manager' erklären, belegt doch immerhin, dass eliten sich nachwievor über - bedauerlicherweise die geraubten originaltexte verstümmelnde - 'literatur' zu definieren versuchen, in ihrem zeitbudget angemessenen verknappungen eben: während die in computerspielen geschulten us-marines ja weniger zu den 'relevanten' entscheidungsträgern westlicher gesellschaften zählen, ebensowenig wie die über die schirme hüpfenden hiphopper, müsste mal einer den kids vielleicht sagen - auch wenn diese kerle als exekutoren so häufig ins tv-bewusstsein geraten, als wären sie es, die die geschichte schrieben..).

eigentümlicherweise ist das selbstverständnis unserer gesellschaften sprachlich fixiert, z.b. in verfassungen: ohne textauslegung keine rechtswissenschaft, ohne debatten keine demokratie, ob nun parlamentarisch oder wie auch immer formiert..

und: die anzahl von leserInnen bestimmter formen von literatur hat sich über sehr lange zeiträume hinweg kaum geändert: was sich aber geändert hat ist der focus des feuilletons als ergebnis eines immensen ökonomischen drucks auf alle elemente der medienwelt: den luxus einer contrazyklischen besprechung, des heraushebens von kollektiv obsolet erklärtem, leistet man sich nicht mehr, weil man ihn sich nicht leisten kann (gespräche mit journalisten ergeben dergleichen immer wieder neu - ich kenne keinen, der poplit als phänomen nicht abscheulich gefunden hätte, aber "man kommt eben nicht dran vorbei".. inzwischen kommt man wohl wieder... unerfreulicherweise sind es nun arrivierende deutsche literaturwissenschaftler, die dasselbe sagen.. immer der welle hinterdrein, in der hoffnung auf partizipation an fremdbestimmter 'relevanz' die eigene erodierend..).

wenn wir aber davon ausgehen, dass literatur als solche nicht obsolet sein wird, dann können auch alle mit ihr verbundenen fragen nicht beiseite gelegt werden: dann müssen wir uns fragen, ob die form von literatur, die derzeit die einzig anerkannte zu werden droht, diejenige ist, die das alles zu leisten vermag, weshalb wir lesen lernen wollten.

oder, um dein bild vom 'schrebergarten' zu kommentieren: das augenzwinkernde erzählen hat inzwischen soviele parzellen besetzt, dass es eine restparzelle wie die von p schonmal als wettbewerbshemmend interpretieren kann: denn nur bei ausschaltung von störgeräusch kann die position soweit gestärkt werden, es mit den neueren medien aufnehmen zu können (behaupten alle unternehmensberatungen)..

die frage, warum du weiter literatur produzierst, wenn du keinen fortschritt mehr in literatur siehst, sondern nur noch schwindende relevanz, diese frage hast du allerdings nicht beantwortet: verstehtst du dich als schlechtgefüttertes zirkustier, das alte kulturtechniken vor einem tendenziell aliteraten publikum aufführt, bis du durch eine computeranimation namens 'schreibtanzbär' ersetzbar sein wirst?

PROGRESS
ginge es uns um progressivität, müssten wir computerspiele & JAVA zum gegenstand nehmen? es ist sicher so, dass eine grosse anzahl von leuten, die neue wege zu gehen versuchen, dies in den von dir angesprochenen bereichen tun. ein teil der kompetenz, die da zu anderen kunstformen ausgezogen ist, fehlt uns im bereich literatur schmerzlich (schmerzlich: weil literatur dann von anderen betrieben wird, die ihre formen&inhalte entsprechend verschieben:): es sind zuviele übrig geblieben, die literatur aus sentimentalen gründen betreiben, oder dank einer persönlichen kommunikationsunfähigkeit, die das im-zimmer-bleiben & schreiben als angeratener erscheinen lassen statt mit anderen menschen zur arbeit zu gehen..

es gibt, wie du sicher weisst, inzwischen auch den ersten SMS-liebesroman, & die telekommunikationsbranche hat mit leuten wie norbert bolz werbebunnies verpflichten können, neben denen die nachfahren konrad bayers nur verblassen können.. der blick in die programmierstuben zeigt uns übrigens, auf welch mittelalterlichen standard personenkonzepte herabsinken können bei ausschliesslich technischer begeisterung (was sich übrigens gerade auch an den futuristen ablesen lässt: mit ihren antiken halbgott-phantasmen am steuer von durch ottomotore angetriebenen fahrzeugen zu lande zu wasser und in der luft..). gerade, indem wir von den frühen avantgarden lernen, dass die technik allein nicht den punkt macht, wohl aber den satzbau verändert, können wir in diesen avantgarden angelegte möglichkeiten weiterentwickeln, um dem erneuten zuschnappen von allmachtsfallen zu entgehen... (& eben auch deshalb ist es notwendig, die ehemaligen von derzeitig avantgardistischen bestrebungen begrifflich zu scheiden)

NEOLOGISMEN
eine sonderbare weise, relevanz zu messen: danach müsste man amerikaner werden, dortselbst in einer mischung aus hollywood-magnat & F18-pilot sein dasein beschliessen, um nicht vollkommen obsolet zu sein... oder dachtest du an die vielen redewendungen, die uns aus dem FAUST in den alltag geflossen sind...?

AUSBLEIBEN
ja, lieber werner, das thema 'relevanz' zieht sich weiter so durch: nur weil die einen gerade mehr publikum als die anderen haben, haben sie recht? & DADA, diese 'bellizisten' in zürich vor ihren 5 mann menschen-publikum, waren derart irrelevant gemessen an ludwig thomas fröhlich in allen tageszeitungen verbreiterter kriegsprosa, wo im frontabschnitt verdun 'lustig die gewehre knattern und wimpeln flattern bunt im wind', nicht? & weil den dadaisten so wenige zugehört haben stimmen die darstellungen, denen zufolge thomas frontberichte unzutreffend seien, natürlich auch nicht - denn die von der mehrzahl konsumierte sicht auf die welt entspricht immer der wahrheit...

wenns vorbei ist, sind wir alle tot - und sterben zu gehen wünsch ich ungern wem...

gruss rbk


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