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Walter Grond
"Städte der Zuflucht"

Als ich mit einer Russisch-Dolmetscherin den Dichter Yadrar Abid am Grazer Flughafen Thalerhof begrüßte, fiel mir Osip Mandelstams Sehnsucht nach Weltkultur ein, sein poetischer Einspruch gegen die Hilflosigkeit, mit der uns jetzt dieser kleine, verschüchterte Mann in der Flughafenhalle gegenüberstand. Es war der 25.Juni 1997: Abid, in Usbekistan mit dem Tod bedroht, war über Moskau nach Österreich gekommen und bat um politisches Asyl. Er begrüßte uns herzlich, redete aber wie abwesend. Vor ihm auf dem Boden lag ein alter, geflickter Seesack. Wie dieser Seesack war der Flüchtlingskörper neutral, mobil und verfügbar geworden.

Ich half ihm, den Seesack über die Straße zu tragen. Yadrar Abid war entkräftet und blaß, duckte sich und schaute sich ständig um. Er zitterte und hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Später sagte er, wie erschrocken er darüber gewesen sei, ohne Vorsichtsmaßnahme über eine Straße zu gehen. In Moskau, wo er zuletzt auf seiner Flucht vor dem usbekischen Geheimdienst untergetaucht war, hätte er sich kaum aus dem Zimmer gewagt.

Wir standen in der Tür seiner künftigen Wohnung. Noch ehe ich sie ihm zeigen konnte, zog er zerknüllte Papiere aus dem Jacket und hielt sie uns aufgeregt entgegen. Wir erkannten darin seinen Rotkreuzpaß, Bittschreiben des russischen PEN und der österreichischen Botschaft in Moskau sowie auch russische Zeitungsausschnitte. Dann leerte Yadrar Abid hastig den Inhalt seines Seesacks auf den Boden, kleine broschürte Bücher, die er als einziges Hab und Gut ins Exil mitgenommen hatte. Verzweifelt versuchte uns dieser Mann zu beweisen, daß er der war, dem wir Zuflucht zu schenken bereit wären: der Dichter.

Im Brief von Andrej Bitow war sein Name als Yadgar Abidov (Obid) angegeben, Dichter und Übersetzer aus Taschkent. Während der Identifikation vor der Fremdenpolizei, dem Melde- und Asylamt brachten wir ihn jedesmal in Gefahr, weil wir nicht wußten, wie er eigentlich hieß: Yadrar Abid, auch Jadgar Abid, Yadrir Abidov, auch Jodgor Obidov oder Yadrir Obid. Er besaß keinen Paß, nur ein behelfsmäßiges Dokument des Roten Kreuzes. Laut Brief des russischen PEN hatte ihm der usbekische Geheimdienst während eines nächtlichen Überfalls in Moskau sämtliche Dokumente geraubt. Hierauf war Abid mitgeteilt worden, die Dokumente wie seine ebenfalls beschlagnahmten Manuskripte würden in einem Safe des Geheimdienstes aufbewahrt. Seitdem war sein Name in ein sprachliches Niemandsland gefallen, zwischen seiner Muttersprache Usbekisch, einer Turksprache, und dem Russischen, der früheren sowjetischen Amtssprache in Usbekistan. Abids Flucht von Taschkent nach Aserbeidschan, weiter nach Rußland und schließlich nach Österreich hatte aus seinem Namen ein beliebiges Buchstabenmuster gemacht. Unfähig zu verstehen, was die Verfremdungen seines Namens für Abid bedeuteten, vollstreckten wir seine absurde Tragödie: auf seiner Flucht vor seinen Verfolgern in einem kulturellen Kontext gelandet zu sein, in dem er tatsächlich ein Niemand geworden war.

Yadrar Abid lebt heute - im Herbst 1998 - als poet in residence in Österreich. Inzwischen als politischer Flüchtling anerkannt, besitzt er einen Fremdenpaß und darf sich in allen Schengenstaaten frei bewegen. Das Asyl gilt auf unbegrenzte Dauer. Seine Frau und seine beiden Töchter leben weiterhin in Taschkent. In Graz erscheint ein Buch mit deutschen Übersetzungen seiner Gedichte.

Abids Flüchtlingsleben beinhaltet auch die Geschichte einer Institution, die 1993 als Internationales Schriftstellerparlament in Straßburg gegründet wurde. Dieses Parlament der Intellektuellen hat sich mit der Schaffung eines Netzwerkes der Zufluchtsstädte zur Aufgabe gemacht, in Zusammenarbeit mit dem Europarat bedrohte Autoren vor Verfolgung zu schützen. Durch Yadrar Abid, den ich am Grazer Flughafen als Gast des Netzwerkes begrüßt hatte, begann ich zu verstehen, was Wolf Lepenies in "Benimm und Erkenntnis" mit einer Politik der Mentalitäten fordert: eine Politik, die den vielfältigen Mentalitätsbrüchen Rechnung trägt, ja einen Wandel der Mentalitäten fördert, einen Wandel, der für viele längst dramatisch notwendig geworden ist, um neue Lebensstile, Handlungsperspektiven und Zukunftshaltungen zu finden. Eine Politik der Mentalitäten muß auf die Phänomene der Informationskultur ebenso reagieren wie auf die Erfahrungen der Migranten, Flüchtlinge und Einwanderer: auf die Befindlichkeiten von Bewohnern einer Welt, in der das Fließband und die klassische Kolonie nicht mehr die Lebenswirklichkeit bestimmen.

Hat nicht die Informationsgesellschaft, ihr Hang, unterschiedliche Bedeutungs- und Handlungsebenen zu durchmengen, Salman Rushdies Leben gerettet? Sein Name ist heute Symbol für eine Kultur der Durchmischung und des Bestehens auf universelle Menschenrechte. 1994 bot die Stadt Straßburg dem mit dem Tod bedrohten indisch-englischen Autor mit dem Asyl auch das Bürgerrecht an. Rushdie, gerade zum Präsidenten des Schriftstellerparlamentes gewählt, bedankte sich mit einer Charta der Unabhängigkeits-Erklärung, dem Anstoß zur Gründung eines Netzwerkes der Zufluchtsstädte.

Ist unsere global vernetzte Welt nicht schon im Begriff, mobile Staaten zu bilden, die künftig - ähnlich der mobilen Existenz eines einzelnen Menschen - ihre Grenzen flexibel gestalten werden müssen? Sind nicht zukünftig Staaten wie Hausboote zu denken, mit denen man - Hab und Gut auf Deck - die Welt befährt? Fällt nicht einer postnationalen Stadtkultur die Aufgabe zu, die verbliebene Grenze im Fluß der Lebensgeschichten von Menschen zu sein, die es mehrmals in ihrem Leben in die Fremde verschlägt? Werden nicht künftig Bürgerrechte nicht mehr Staatsbürgerrechte, sondern Stadtbürgerrechte sein müssen, Citizenships, flexibel dem Aufenthalt ihrer Bewohner nach zugesprochen?

Yadrar Abid aus Taschkent ist einer der Autoren aus Albanien, Algerien, Bosnien, dem Iran, Irak, aus Kuba, Georgien, Nigeria und Usbekistan, die gegenwärtig in den Städten der Zuflucht Europas, Mexikos und Brasiliens leben. Seine Flüchtlingsgeschichte wurzelt in einer literarischen Arbeit, die beispielhaft das Bestehen des Einzelnen auf Freiheit vor Augen führt. In seinen Gedichten, Aufsätzen, Radioreden und Pamphleten war Abid gegen den Stalinismus ebenso aufgetreten wie gegen das postsowjetische Regime in Usbekistan, eine Mischform aus sowjetischem Totalitarismus und orientalischer Stammeslebensweise. Mehrmals inhaftiert und schließlich mit dem Tode bedroht, war er nach Moskau geflüchtet, dort aber weiterhin Verfolgungen ausgesetzt gewesen, weil, so Alexander Tkatschenko für den russichen PEN, die Grenzen der GUS-Länder für die Geheimdienste der ehemaligen Sowjetstaaten offene sind.

In Usbekistan ein Volksdichter, dessen Gedichte während Kundgebungen rezitiert und auf Flugblättern verbreitet werden, ist Yadrar Abid inzwischen in einer Zivilisation gelandet, die der seinen so entfernt ist, daß sich in ihr kaum Übersetzer aus seiner Muttersprache finden. Selbst die von ihm begeisterten russischen Lyriker Andrey Wosnessenski, Bella Achmadulina und Junna Moritz weisen in ihren Urteilen über Abids Gedichte zuerst darauf hin, daß sich ihr Urteil auf Nachdichtungen aus dem Usbekischen ins Russische bezieht. Sie sprechen im selben Atemzug von Abid als einem Denker zwischen europäischer und orientalischer Philosophie, der eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen imstande sei.

Von einem Ende der Welt zum anderen gebracht, schreibt Salman Rushdie, sind wir alle übersetzte Menschen. Üblicherweise nehme man an, daß in einer Übersetzung stets etwas verloren gehe; er aber halte hartnäckig an der Idee fest, daß auch etwas gewonnen werden könne. Der schlaue Odysseus hatte durch List sein Leben gerettet, indem er dem einäugigen Kyklopen auf dessen Frage, wie sein Name laute, "Odysseus" als Niemand übersetzt hatte. Lehrt uns nicht Homer das Niemandsland der Migranten, Auswanderer und Flüchtlinge? Ein Niemandsland, das für Odysseus, den ureuropäischen Helden, nicht nur Exil bedeutete, sondern zugleich Überwindung des Fatalismus, Exterritorialisierung, Erkenntis der Vielfalt, Durchmischung?

Yadrar Abids untrennbar mit seiner Lebenswirklichkeit verbundene Gedichte zeigen, wie sehr Gewißheiten nicht nur vorläufige sind, sondern gerade das Begnügen mit der Vorläufigkeit den einzelnen handlungsfähig macht. Jene Vorläufigkeit der Gewißheiten ist auch Teil der Verwandlungen, die Abids Verse durch drei Kulturen hindurch erfahren.

Ist nicht Urbanität, die dem Begriff der Weltliteratur zugrunde liegt, von jener Durchmischung geprägt, die Ballungszentren stets von ihren Rändern her erfahren haben? In der Durchmischung wird ständig etwas hinzu gewonnen. Weil sich Segmente von Kulturen stets überlappen, befindet sich jede Kultur in einem dauernden Prozeß der Übersetzung. Beim täglichen Versuch Yadrar Abids, über die zweifache Gebrochenheit der Begriffe hinweg die Erinnerungen an Taschkent zu erzählen, schließt er nicht nur Lücken des Wissens über eine uns fremde Kultur, sondern öffnet auch jene Lücke des Wissens über unser eigenes Niemandsland: als Imperativ, moralische Interessen zu artikulieren.

Unsere Fähigkeit zur Übersetzung fremder Kulturen zu stärken, nennt Wolf Lepenies die Gegenstrategie zum Szenario, wie es Samuel Huntington - nach dem proklamierten Ende der Geschichte - als drohender Krieg der Kulturkreise beschwört. Ich erinnere mich an Yadrar Abids lapidare Feststellung, er sei Moslem, trinke aber Wodka. Ein andermal kannte er in einem Zwiegespräch mit einem bosnischen Moslem dessen wichtigstes Glaubensfest nicht. Hat nicht das Schreckbild vom clash of civilisations seine Wurzel im Konservativismus gegenüber der Modernität unserer eigenen Kultur? Gegen die Tendenz, die Theorien wie die Methoden, die Gegenstandswahl wie die Darstellungsweisen zu pluralisieren? Gegen das Selbstverständnis, die europäischen Erzählungen, Religionen und Ideologien zu fragmentarisieren? Soll mit der Dämonisierung des Islam nicht eigentlich ein klassizistisches Europa wiederhergestellt werden? Wolf Lepenies fragt zurecht: Wie heißt der Plural von Islam? Wieso wissen wir das nicht? Yadrar Abid weiß es, genauso wie sein bosnischer Gesprächspartner, der sich über Abids Wissenslücke amüsierte, ihn aber einen guten Moslem nannte. Der Islam, das neue abendländische Schreckensbild nach dem Tod des Kommunismus, bedarf einer Pluralisierung. Yadrar Abids Anwesenheit im Netzwerk der Zufluchtsstädte fordert dazu auf.

Damit einher geht die Hinterfragung unseres Begriffes der bürgerlichen Öffentlichkeit, deren oberstes Gut die Freiheit des Wortes ist. Haben sich nicht die Formen der Zensur dramatisch geändert? Verfolgung ist nicht mehr notwendigerweise aus dem Verhältnis zwischen Zentralmacht und Einzelnem begründet. Sie ist auf eine gespenstische Weise Privatangelegenheit geworden - gerade in Gestalt der Fundamentalisten -, eine Terrorisierung des Privaten, das doch die bürgerliche Öffentlichkeit in ihrem Entstehen im 19.Jahrhundert gegen Staat und Kirche geschützt hatte. Die neuen Formen von Verfolgung und Zensur sind Folgen einer fragmentarisierten Lebenswelt, die groteskerweise zugleich dem Fremden die Pluralisierung verwehrt. Yadrar Abids Anwesenheit trägt zu einer Art undiszipliniertem Wissensdiskurs bei. Yadrar Abid ist kein bürgerlicher Intellektueller, er repräsentiert aber auch nichts, was man dazu relativieren müßte. Seine Anwesenheit fördert eine Politik der Mentalitäten auch in Hinsicht eines Wandels der Vorstellung von Intellektuellen von sich selbst. Können wir uns nicht den Intellektuellen, fragt Wolf Lepenies, als einen wie Denis Diderot denken, einen Intellektuellen mit hoher Selbstverpflichtung, der keine Scheu vor der Alltagswelt hat, der sich einmischen, den anderen gefallen, von seinen Mitmenschen gemocht werden will? Ein Aufklärer, der sich nicht selbst überschätzt, sondern Teil einer Gesellschaft sein will, der Citizenship verpflichtet, der Zuflucht?


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