martin krusches [flame] logbuch / blatt #97


Ein Strom der Linien

Plattform, Kiste, Kugel, Tropfen. Der Luftwiderstand ist, neben dem Abrollwiderstand der Reifen, bei Fahrzeugen einer der großen Energiefresser. Auf dem Weg vom Motor zu den Rädern bleibt auch allerhand Kraft im Antriebsstrang hängen. Über die Formgebung des Autos läßt sich also Leistung gewinnen.

Der europäische Weg zum Stromlinienauto ist jenseits diverser "Tropfenwagen" a la Rumpler oder Marco Ricottis Alfa, von zahlreichen Pfaden gesäumt. Die Arbeit von Paul Jaray [link] war äußerst prägend. Wer gerne von Ferdinand Porsche redet, übersieht dabei gelegentlich Erwin Komenda.

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1913: Alfa Ricotti

Davor wurden schon Hans Ledwinka und Karl Jenschke einflußreich. Europäische und amerikanische Kräfte suchten nach nächsten Möglichkeiten. In meiner 2015er "Wunderkammer" zum vorjährigen Aprilfestival waren Miniaturen einiger Meilensteine dieser Entwicklung zu sehen. Der Tatra 77 , der Ursaab und der Chrysler Airflow: [link]

Italiens besonderen Beitrag nach dem Zweiten Weltkrieg, die Arbeit von Giacosa und Alberti, habe ich in "Woher kommt das Puch-Häusel?" beschrieben: [link] Bevor sich aber die selbsttragenden Karosserien durchsetzten, konnte auf der Basis von Leiterrahmen experimentiert werden.

Zum amerikanischen Weg wid gerne kolportiert, man habe dort festgestellt, die Autos hätten weit bessere Luftwiderstandswerte, wenn man sie verkehrt herum in den Windkanal schicke.

Ich hielt das für ein Bonmot, das technisch plausibel klingt, mir aber in keiner Quelle belegt wurde. Bis jetzt. Carroll Gantz beschreibt diesen Teil der Geschichte in seinem Buch "The Industrialization of Design".

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1931 Reo Royale 8-35 (Foto: CC by Liftarn)

Demnach habe sich Designer Norman Bel Geddes mit dem Luftfahrtpionier Glenn Curtiss auf diese Spur gesetzt. Sie brachten ein Auto bloß dadurch von 74 auf 87 mph, indem sie die Karosserie vom Chassis lösten und verkehrt herum draufsetzten. Ihre weiterführende Arbeit am "Streamlining" soll allein über diese veränderte Formgebung 25 Prozent Tempogewinn im Bereich um die 25 mph gezeitigt haben.

Ich hab schon merhfach erwähnt, die Stromlinie sei in kürzerster Zeit von der technischen Implikation zum kulturellen Code geworden. Gantz schreibt diesen Schritt dem Designer Amos Northup zu. Sein sanft gerundeter 1931er Reo Royale Eight sei das erste Auto aus Massenproduktion, welches "aesthetic streamlining" repräsentiere.

Kurz darauf schuf ein Team von vier Leuten jenen Streamliner, der auch Laien als merklich windschlüpfrigeres Modell erscheint. Carl Breer, George McCain, Owen Skelten und Fred Zeder entwickelten den 1934er Chrysler Airflow, welchen Toyoda (später: Toyota) im Jahr 1936 mit seiner Limousine AA [link] kopierte.

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1933 Der Chrysler Airflow in der amerikanischen Patentschrift USD97575S

Inzwischen war von "functional beauty" die Rede, welche das damalige Publikum am Chrysler freilich noch nicht erkennen wollte. Der Wagen verkaufte sich schlecht. Die junge "Maschinenkunst" sollte umsatzsteigernd wirken. Siehe dazu auch: Flow (Was haben Schönheit und Geschwindigkeit miteinander zu tun?) [link]

Hier ein Beispiel für die neue Gewichtung des Design. Designer Raymond Loewy, von dem unter anderem bedeutende Studebaker-Modelle stammen, hatte laut Gantz mit seiner Getaltung des Kühlschranks Coldspot Super Six erreicht, daß die Umsätze um rund 400 (!) Prozent anstiegen.

Loewy war der Ansicht: "Von zwei Produkten, die in Preis, Funktion und Qualität nichts unterscheidet, wird das mit dem attraktiveren Äußeren das Rennen machen." [Quelle] Wir sollten wohl anerkennen, daß der Hunger nach sinnlichr Wahrnehmung auf visueller Ebene genauso gestillt werden will, wie der Hunger nach Brot.

Das durchdrang in den 1930er Jahren die Welt der Massenproduktion mit Wucht. Dabei kam es, ähnlich wie im Bereich der Kleidung, zu stellenweise oft sehr verwirrenden Mode- Phänomenen.

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1938: Vehicle Body Constrution von Erwin Komenda
in der amerikanischen Patentschrift 2,388,419

Beide Genres, Autos und Mode, wurden auch oft mit der Silhouetzte des Frauenleibes gekoppelt. Bedenkt man, daß Frauen unsere ersten Vehikel sind, in denen wir als Passagiere die Welt indirekt erfahren, lohnt vielleicht ein eigener Blick auf diese Zusammenhänge.

Gelegentlich gab es auch ganz unverblümte Assoziationen von Automobldesign und dem Frauenleib. Doch das erscheint mir eher als ein Nischenthema. So oder so steht Windschlüpfrigkeit für ein Codesystem, das nicht ignoriert werden kann.

Siehe dazu auch:
+) Leiblichkeit und Weiblichkeit: Die mechanische Braut [link]
+) Stromlinie: Keine Mode, sondern Zweck [link]

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