15. Jänner 2015

In diesen Tagen schrieb der französische Philosoph Bernard-Henry Levy: "Uns Bürgern geziemt es, die Angst zu überwinden, auf den Terror nicht mit Schrecken zu reagieren und uns gegen jene panische Angst vor dem Anderen, jenes Gesetz des allgemeinen Misstrauens zu wappnen, die fast immer das Ergebnis solcher Erschütterungen sind." [Quelle]

Das hieße, sich über die eigene Position klar werden, um aus der Kultur und dem Staatswesen, denen man sich zugehörig fühlt, die dazu nötige Ermutigung zu schöpfen.

Ich hab im vorigen Eintrag eine Befragung zitiert, wonach rund die Hälfte der Befragten die Kultur Österreichs durch den Islam bedroht sieht. Wie kann denn das sein? Woher kommt dieses Minderwerigkeitsgefühl? Es ist ein Medienereignis, denn weder hab ich je einen Prediger getroffen, gesehen, gehört, der etwas Bemerkenswertes gegen die Verhältnisse in diesem Land vorgebracht haben, noch kenne ich Muslime, die das tun.

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Ein typisches Beispiel, wie der Islam Österreichs Kultur verfälscht hat ;-)

Es gibt sie zwar, das glaube ich gerne, aber sehr viele können es nicht sein und eine Bedrohung für "unsere Kultur" sind sie schon gar nicht. Sie sind bestenalls ein Problem, dem diese Republik gewachsen sein sollte.

Das ist also erstens alles Hörensagen und zweitens offenbart es einen problematichen kulturellen Zustand unseres Landes. Wie ich zu dieser Meinung gelange? Hier stehe ich, hab sehr klare Vorstellungen, was die Verfaßtheit unserer kulturellen Verhältnisse angeht, kenne die Geschichte dieses Landes leidlich, kenne Literaturen, Musik und bildende Kunst, kenne politische Kräftespiele, die das begleitet.

Eine Bürgerin Österreichs, ein Bürger dieses Landes sollte früher oder später wenigstens skizzenhafte Kenntnisse unserer Geschichte der letzten zweihundert Jahre haben. Wer davon eher gar nichts weiß, möge bitte vorläufig das Maul halten, wenn unsere Kultur zur Debatte steht, und die nächsten Jahr nutzen, den eigenen Wissensstand etwas zu bereichern.

Ich meine zu wissen, wer ich bin und wer wir einander sind in diesem Alpe-Adria-Raum, der im Übermaß mit Geschichte vollgepackt ist, um so mehr, je weiter wir unsere Betrachtung südöstlich lenken. Aus den wildesten Kontroversen, aus den härtsetn ethnischen Kontrasten hat Europa bezogen, was heute als seine Fundamente behauptet wird: Philosophie, Recht, Religion. (Übrigens mehrheitlich vom Balkan und aus Kleinasien; oder was meinen Sie, wo etwa Aritoteles, wo Paulus von Tarsus gelebt haben?)

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Chai in Gleisdorf? Nicht mit mir! (Und: Rettet den Weißburgunder!)

Aus eben dieser Kenntnis und aus eben diesem Selbstverständis sind mir keinerlei Hinweise bekannt, die auf eine Bedrohung unserer Kultur schließen lassen; zumindest keine islamisch geprägten Bedrohungen. Wenn wir kulturelle Bedrohung befürchten und uns um unsere Identitäten sorgen, sollten wir vielleicht eher über massenhaften TV-Konsum, Boulevard-Journalismus und die Werbeindustrie reden.

Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl ließ eben -- mit Blick auf junge Dschihadis -- verlauten: "Wer den Krieg über unsere Wertegesellschaft stellt, hat in unserem Land nichts verloren." [Quelle] Da ist, gemessen an jüngsten Vorkommnissen, von Teenagers die Rede, die ihre Orientierung so sehr verloren haben, daß sie, noch nicht einmal zwanzig Jahre auf der Welt, aus freien Stücken in den Krieg ziehen.

Als ich Nagl das letzte Mal sah, vorigen Herbst im Johann Puch Museum, hatte er seinen Sohn an der Hand. Fällt dem Vater aus eben dieser Erfahrung seiner Vaterschaft nicht auf, welche Schrecken sich in solchen Fällen einstellt, der ja, wie wir hören, auch das Fassungsvermögen der Eltern dieser Teenies übersteigt?

Also hätte ich ihn zu fragen, so von Vater zu Vater, was uns dazu einfällt, wenn wir sehen, daß die Würde unserer Schutzbefohlenen bei manchen schon begraben wurde, solange sie noch atmen.

Vielleicht muß ich das erklären. Kinder sind unsere Schutzbefohlenen. Nachdem ich nun Gabriel und Nina aufwachsen sah, die würden aus freien Stücken in keinen Krieg ziehen, habe ich dabei Erfahrungen gemacht, die nicht bloß meinen Part als Vater klärten, also zum Beispiel die Frage, in welchen Punkten ein Kind meines Schutzes bedarf und sich darauf verlassen können muß.

Es haben diese Prozesse mir auch ein anderes Gefühl für Kinder überhaupt verschafft. Was heißt das konkret für die Praxis? Es wäre geheuchelt, würde ich meine individuelle Zuständigkeit für andre Kinder behaupten. Ich sehe mich als Teil einer Erwachsenenwelt und somit für eine Kultur mitverantwortlich, in denen unsere Kinder verläßlich Schutz haben.

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Auch Bürgermeister sind Väter: Siegfried Nagl

Daher die zwingende Frage, was Bürgermeister Nagl denn meint, wenn er "unsere Wertegesellschaft" herausstreicht, deren Bedrohung er abwenden möchte. Meint er etwa unsere Positionen gegen das hohe Maß häuslicher Gewalt? Die Mißhandlung von Kindern hat nämlich epidemische Ausmaße. (Auf sexuelle Übergriffe muß ich jetzt wohl nicht extra eingehen.)

Meint er vielleicht unser Vorankommen, um unser zutiefst krisenhaftes Bildungssystem nach Jahren, Jahrzehnten der Stagnation doch wieder flott zu bekommen, auf daß wir unseren Kindern jene Bildungschancen bieten können, zu denen so ein reiches Land fähig sein sollte?

Meint er unsere herausragenden moralischen Qualitäten, die freilich etwas gelitten haben, wenn wir zum Beispiel feststellen, daß Österreich in einem internationalen Korruptionsindex eine klare Spitzenposition hat? Das, mit Verlaub, sind Kräftespiele, von denen unsere Kultur bedroht wird.

Nebenbei: Hoffen wir beim Thema "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" noch ein halbes Jahrhundert auf die Geduld der Frauen?

Ich bin kein  Moslem, also hab ich der Umma nichts zu sagen, hab keine Nachricht für Muslime, auf welche Arten sie ihr Denken und Verhalten revidieren sollten. Ich bin ein Europäer, der Menschen mit anderen Erfahrungen als dem Aufwachsen in Europa bestenfalls demonstrieren möchte: Wir leben hier ein interessantes Konzept. Im Ringen um Verteilungsgerechtigkeit ist sehr viel Wohlstand für sehr viele Menschen möglich, was uns befähigt, jene zu unterstützen, denen es nicht gut geht.

Wir üben uns hier in Österreich, seit die Nazi militärisch geschlagen wurden, freiwillig war es ja nicht, in Meinungsfreiheit. Das hat sich bewährt. Wir haben uns der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet. Auch das ist keine schlechte Idee gewesen, selbst wenn wir es manchmal vergessen.

Wir haben zumindest die Freiheit, in unserem Denken nicht Richtung 19. Jahrhundert abzurutschen, daher müssen wir auch nicht hinter Ernest Renan zurück, der damals die Idee aufbrachte, die Nation sei "ein sich täglich wiederholendes Plebiszit", also ein politisches Bekenntnis und keine biologistisch begründete Abstammungsangelegenheit.

Das meint, wer sich zur Nation bekennt, ihre Regeln einhält, gehört dazu. Staatsbürgerschaft ist keine Frage von Abstammung, sondern ein juristischer Begriff. Die Unterscheidung von hier geborenen und von eingebürgerten Staatsbürgerinnen und -bürgern bleibt eine stete Quelle von Polemik und politischem Mißbrauch dieser Kategorien.

Europa ist kein Abstammungskonzept, sondern seit jeher ein multiethnisches Kräftespiel. Wer sich lieber fürchtet, statt die eigene Geschichte kennenzulernen, die eigene Kultur zu erfahren, reiht sich in eine politische Manövriermasse ein.

Ich habe keine klare Idee, was "Der Islam" an sich ändern solle, ich sehe bloß muslimisch geprägte Gesellschaften scheitern und scheitern und scheitern. Aber ich hab klare Vorstellungen von Europa und, wie angedeutet, von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Doch was genau nun wir als eine "Wertegesellschaft" seien, das möge mir bitte der Grazer Bürgermeister erst einmal detaillierter erklären...

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