31. Mai 2015

Ich hab in einem Eintrag vor rund einer Woche das Thema "Werte des Abendlandes" angeschnitten. Ein oszillierender Komplex in diesen Wochen zwischen Gemeinderatswahl und Landtagswahl.

Ich habe angedeutet, daß ich gegenüber dem Wort "Werte" das Wort "Qualitäten" für geeigneter halte. Es macht einen markanten Unterschied, über eine Qualität zu verfügen oder bloß einem Wert anzuhängen.

Das erste bezeichnet eine Eigenschaft, die man erwerben muß, das zweite eine Auffassung, die man haben kann. Ich denke, daß zwar die Eigenschaft nicht ohne eine Auffassung zustande kommt, die Auffassung aber jederzeit auf Eigenschaften verzichten kann.

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Darum hab ich auch bezüglich der "Werte des Abendlandes" im Eintrag vom 26. Mai notiert: "Bloß weil diese Qualitäten universalisierbar sind, heißt das noch nicht, sie seien auch universell."

Wenn ich bei uns jemand sagen höre: Abendland, dann meint das gewöhnlich den westlich orientierten Teil Europas, schließt vorzugsweise jene Bereiche aus, die zuletzt hinter dem Eisernen Vorhang lagen und in der Vergangenheit von Ostrom geprägt waren.

Als Kind des Kalten Krieges bin ich mit den Ressentiments gegenüber slawischen Völkern aufgewachsen. Seit der Eiserne Vorhang fiel und wir uns des Endes dieser bipolaren Weltdeutungen hätten erfreuen können, ist unseren Leuten offenbar ein günstiges Feindbild abgegangen; obwohl ja das Judentum als Feindbild nie aus der Mode kam.

Inzwischen hat "Der Islam" als Ersatzfeindbild reüssiert und genießt Hochkonjunktur. Da läßt sich wieder gut fürchten. Nein, da läßt sich vor allem berechtigte Furcht vor ganz anderen Belangen gut verstauen.

Heute werden viele von uns wählen gehen, doch der Wahlkampf hat uns nur wenig reinen Wein eingeschenkt.

Wir stecken in wenigstens drei großen Themen fest, deren Konsequenzen sich hinter dem Abarbeiten von simplen Feindbildern gut verbergen lassen. Ein enormes Problem wurzelt wohl im unerbittlichen Mangel an weltweiter Verteilungsgerechtigkeit.

Seit 1900 wuchs die Weltbevölkerung von 1,65 Milliarden auf 6,96 Milliarden Menschen, von denen uns viele via Medien zusehen, wie wir einen Wohlstand konsumieren, allein dessen volle Abfallkübel ihnen schon ein besseres Leben bescheren würden. Aber wir hängen noch an den Konzepten von Conquistadoren und stellen ihnen nichts in Aussicht. Die konkreten Zahlen:

+) 1900: 1,656,000,000 Menschen
+) 1950: 2,516,000,000 Menschen
+) 2011: 6,987,000,000 Menschen
+) Quelle: [link]

Die Notleidenden unter ihnen werden bleiben, wo sie sind, uns weiter, darbend, zusehen? Das glaube ich nicht. Daran gemessen ist das nächste Problem merklich kleiner, aber es trifft uns mit weitreichender Härte. Europa, einst die Herrin der Welt, Kolonial- und Industriemacht von erlesener Raffgier, verliert rasant an Bedeutung in eben dieser Welt.

In meinen Kindertagen konnte man sich noch einreden, es werde anders kommen, da ja unser Wohlstand am Kapitalismus hinge und der wiederum ohne Demokratie nicht zu machen sei. Wie sehr haben wir das einander auch beim Zusammenbruch der UDSSR zugerufen.

Aber dieser Irrglaube wurde inzwischen von einigen Staaten in den Kübel getreten, allen voran von China, wo eben ganz unübersehbar der Kapitalismus ohne unsere Vorstellung von Demokratie prächtig gedeiht.

Das dritte gewichtige Problem, in dem wir mit anderen Ländern einhergehen, ist das Auseinanderbrechen der Gesellschaft, übrigens auch aus einem Mangel an Verteilungsgrechtigkeit.

Dabei wirkt sich vieles brutal aus, von einem schon beschämend lange Zeit schwer angeschlagenen Bildungssystem bis zur Weigerung weniger Reicher, die Kosten des Gemeinwesens ebenso mitzutragen wie die Masse durchschnittlich Verdienender.

Dieses Auseinanderbrechen der Gesellschaft zeigt eine irritierenden Effekt.

Die Ängste vieler Menschen, welche sich von einem sozialen Abstieg bedroht fühlen, wandeln sich nicht in eine Aggression gegen wohlhabenden Minoritäten, die sich aus jedem Gesellschaftsvertrag verabschiedet haben, sie richten sich gegen noch Bedrohtere, gegen Schwächere, Hilfsbedürftige, gegen Flüchtlinge und sozial marginalisierte Minderheiten.

Ich kenne zur Zeit kaum ein umfassenderes gesellschaftliches Versagen in der Frage der "Werte des Abendlandes". Es wird freilich von kleinen Grüppchen stellenweise durchbrochen, von Kreisen, die solche Reaktionsmuster bezüglich aktueller Modernisierungskrisen ausschlagen.

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Wo sich aber Menschen gegen die Menschenverachtung aus dem Fenster lehnen, engagieren, werden sie gelegentlich zum Ziel heftiger Anfechtungen. Solche Angriffe kommen freilich oft von jenen, die sich längst am Rande dieser Gesellschaft wähnen und daher wenig Anlaß finden, sich an der Demokratie im Sinn erklärter Werte/Qualitäten zu beteiligen.

Wenn es mir auch schwer fällt, das zu berücksichtigen, sie sind vielfach ebenfalls Opfer von Kräftespielen, deren Ursachen sie nicht zu verantworten haben. Wie leicht man dabei allerdings zum Mitläufer und schließlich zum Täter werden kann, wissen wir.

All das mitten in einem wohlhabenden Teil Europas, der sich umzingelt fühlt, sich abschotten möchte, an verfügbaren Annehmlichkeiten festhalten will, und bei all dem womöglich nicht begreifen kann, daß wir auf dieser Welt in Gesellschaft von großen Völkern leben, die unsere Vorstellung von Demokratie nicht für anziehend halten.

Ich wiederhole mich: Bloß weil Qualitäten, die wir bevorzugen, universalisierbar sind, heißt das noch nicht, sie seien auch universell. Wenn das westliche Europa einst die Macht hatte, anderen Völkern seine Vorstellungen aufzuzwingen, diese Option ist dahin.

Natürlich würde ich vom politischen Personal erwarten, sich diesen großen Themen zu stellen, auch der Politik in den kleinen Gemeinden wäre das abzuverlangen. Aber bevor ich mit dieser Forderung laut werde, möchte ich es doch von den Leuten meines Metiers erwarten, von Kunst- und Kulturschaffenden.

Ich kenne zum Glück genügend hervorragende Leute, um diesbezüglich meine Zuversicht behalten zu können. Aber ich vermisse zu viel davon in meinem unmittelbaren Lebensraum.

Da liegt das Schwergewicht der Aktivitäten noch auf der Seite der Selbstrepräsentation und des geselligen Ereignisses. Wie sollen neue Orientierungen zu aktuellen Problemlagen in einer Gesellschaft entstehen, wenn wir nicht im Bereich der Wahrnehmungserfahrungen, der Reflexion und des symbolischen Denkens damit vorankommen?

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