11. Dezember 2017

Was war das dieser Tage? Fünf oder acht Zentimeter Schnee, die für ein paar Stunden vor dem Haus lagen? Dafür schrammte ein gut illuminierter Zweitwohnsitz vor meinem Fenster über die Fläche. Eine teure Maschine, für die Stadt ebenso zu groß wie für die Felder in der Region. (Oder aber der schwere Ackerboden ist längst so verdichtet, daß man bloß noch mit solchen Monstern umbauen kann.)

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Was ich lange nicht wußte: Nur der Ahnungslose fragt bei Traktoren nach den gefahrenen Kilometern, wo sie doch nach Betriebsstunden bewertet werden. Nun gibt es keine praktischen Gründe, weshalb ich über das Agrarische solche Details kennen sollte, wie auch etwa die Bedeutung des Wortes Bifang oder was hier die Selbstversorgerwirtschaften waren.

Mein in solchem Sinn überaus orchideenhaftes Wissen reicht viel weiter, ohne sich im Alltag bewähren zu müssen. Etwa daß von weltweit rund 1,33 Milliarden Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, eine Milliarde von Hand, 300 Millionen mit Zugtieren und nur 30 Millionen mit Maschinen zur Sache gehen.

Die Faustregel besagt, daß landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität in manchen Regionen des Nordens um bis zu 200 mal höher ist als in südlichen Regionen. Das ist aber noch nicht lange so. Selbstverständlich sind unter uns nach wie vor Menschen aus jener alten agrarischen Welt, da die genügsamen, langsamen Ochsen das Tempo des Tage bestimmt haben.

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Das Leben ist eine endlose Plackerei mit kleinen Pausen gewesen. Wer sich nicht geschunden hat, hat nichts gegolten. Man war damals auch besser keine Frau, schon gar keine ledige Frau mit Kind. Im lokalen Baumarkt sieht die Erinnerung an diese Welt heute so aus, wie auf diesem Foto. (Es ist mir völlig unerklärlich, was jemanden bewegen mag, eine Egge und ein Wagenrad neben den Rasenmäher zu packen.)

Und während mir eben honorige Herren erklärt haben, warum das Wort Ehe heterosexuellen Paaren vorbehalten sein soll, weil wir sonst ein sprachliches Problem hätten, eine Verwirrung unserer Kommunikation, erinnere ich mich an das Gespräch mit einem über achtzig Jahre alten Mann, der so ein lediges Dienstbotenkind gewesen ist. (Ach, die Vorzüge der "traditionellen Familie"!)

Dieser Oststeirer, der etliche junge Jahre in der Fremdenlegion verbracht hatte, um von hier wegzukommen, saß mir unter einem Teil seiner Erzählungen mit Tränen des Kummers in den Augen gegenüber, mit einem nie verklungenen Schmerz aus jenen Kindertagen. Verursacht durch Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, wovon es damals täglich genug gab, während das Essen immer knapp war.

Wenn schon nicht satt, dann wenigstens mißhandelt und gedemütigt werden. Wir sind die Kinder einer Kultur voller Anmaßung und Niedertracht. Wie freundlich diese Umstände gerade zur Adventzeit beleuchtet werden, dekoriert, in allerhand Duft und Eiligkeit verpackt, in eine merkwürdige Art der Ergriffenheit, die offenbar ritualisiert wurde, um zu ertragen, was wir zu verantworten haben.

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Keine Sorge! Dem folgt nun keine Predigt und kein Appell. Ich verfalle statt dessen mit immer größerer Gewißheit der Magie des meisterhaften Erzählens, wie es mir in Büchern und Filmen entgegen kommt. Dort fühle ich mich aufgehoben, um Klarheiten zu finden, aber auch um zu erfahren, wohin die Möglichkeiten reichen. Möglichkeiten eines Lebens. Möglichkeiten des Erzählens.

So habe ich mir eben "The Party" (2017) der fulminanten Sally Potter zum zweiten Mal angesehen, um darin all den Nuancen auf die Spur zu kommen. (Auf dem Foto oben Bruno Ganz mit Cillian Murphy.)

Mit in diesem Spiel übrigens Timothy Spall, den ich bei Mike Leigh als "Mr. Turner" (2014) noch öfter sehen muß. Siehe dazu den Eintrag vom 26.3.2015! Damals notierte ich als Postskriptum: Ob Mike Leigh, als er Vater und Sohn Turner entwarf, sich als ein Verehrer von Bouvard und Pécuchet erkennen ließ?

Damit ist es ähnlich wie mit den Traktoren und den Bifang-Feldern. Also: Bouvard und Pécuchet. Man muß das nicht wissen. Man muß die nicht kennen. Es ist bloß eine kleine Markierung in einem uferlosen Koordinatensystem, das wir Kultur nennen.

Ich hab im vorigen Eintrag die "Verschwörung der Poeten" erwähnt, jenem kleinen Vorläuferprojekt zu meinen 20 Jahren "The Long Distance Howl". Dort war es in der letzten Woche des Jahres 2002, also um eine Zeit wie jetzt, da ich im heute verschwundenen Lokal des Signore saß und diesen Roman von Flaubert erneut las: [link]

Zugegeben, es ist eine etwas dünkelhafte Pose, manche Bücher mehr als einmal zu lesen. Vielleicht werden wir, einige von uns, eines Tages ganz ohne äußeren Zwang wie jene Waldbewohner aus Ray Bradbury's "Fahrenheit 451" sein, etwas verloren, frierend, je einem Buch verfallen, das wir zu rezitieren verstehen, um es zu erhalten. Vermutlich wäre ich Bouvard und Pécuchet...

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