12. Jänner 2018

Im Juli 206 berichtete der Evening Standard über historische Schwarzweiß-Fotografie aus dem Londoner Stadtteil Hackney. Eines der Fotos stammt aus dem Jahr 1929 und zeigt Charles Nelson, den "Knocker-up", wie er mit einem langen Stecken an ein Fenster im ersten Stock eines Gebäudes klopft. Der "Aufklopfer" hatte den Job, "am frühen Morgen Arbeiter wie Ärzte, Händler und Fahrer" zu wecken. [Quelle]

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Ein fast schon romantisch anmutendes Beispiel für die Synchronisation der Menschen im Tagesablauf. In früheren Zeiten hatten Kirchenglocken ähnliches zu leisten. In anderen Ballungszentren sorgten die Fabrikssirenen dafür, daß die Menschen wußten, wann das Tagwerk begann und wann es endete; in dem Fall die Schicht.

Der Job des Knocker-Up war freilich keinen Deut romantisch, sondern eine mutmaßlich schlecht bezahlte Arbeit im Jahr des katastrophalen Wall Street Crash ("Black Thursday"). Ich hab in "Industrielle Revolutionen" auf den Roman „Am Fliessband. Mr. Ford und sein Knecht Shutt“ von Upton Sinclair verweisen, der diese Entwicklung darstellt: wie Menschen in die Produktionsabläufe eingebunden und zu Anhängseln der Maschinen gemacht wurden.

Das betraf, wie Sinclair schildert, nicht nur die physische Ebene, sondern schloß ein, wie Menschen behandelt wurden und welche emotionalen Konsequenzen das haben konnte. In diesem Buch findet man übrigens auch eine sehr anschauliche Schilderung des Umbruchs zur "Zweiten Industriellen Revolution", jener Optimierungs- und Automatisierungsschritte, die zum Fließband führten. Sinclair siedelt diese Vorgänge im Jahr 1913 an, was mit meiner Darstellung im oben genannten Text korrespondiert, denn über solche Schritte in den Grazer Puchwerken wurde 1913 berichtet.

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Sinclairs Roman heißt im amerikanischen Original übrigens "The Flivver King". Der König der Blechkisten. In jenen Tagen kursierten offenbar zahlreiche Ford-Witze, denn was Henry Ford in Gang brachte, muß vielen Menschen ziemlich unheimlich, weil völlig ungewohnt gewesen sein. Sinclair: "Die Pointe war immer dieselbe: Man hatte ein halbes Dutzend Blechkannen und eine Sprungfeder irrtümlich für einen Ford gehalten; man reparierte sie, und nun liefen sie ganz ausgezeichnet. Jeder dieser Witze war eine kostenlose Reklame für Mr. Fords Wagen."

Nun komme ich langsam an einen Punkt, wo sich meine aktuelle Maschinenprosa und die Notizen zur Kunst (wie gestern) berühren. Annemarie Jost beschreibt in ihrem Buch "Zeitstörungen. Vom Umgang mit Zeit in Psychiatrie und Alltag" über Eigenrhythmen und soziale Zeit. Dabei erscheint mir die Synchronisation von Eigenrhythmen interessant, die in einer Maschinenhalle nicht machbar ist, weil dort die Menschen mit Maschinen synchronisiert werden. (Werkzeuge, die wir verwenden, wirken immer verändernd auf uns zurück.).

Jost schreibt: "Die gemeinsam gestaltete Zeit entsteht durch Synchronisation von Eigenrhythmen und nicht durch die Ausrichtung an einen objektiv gültigen Zeitgeber. Der Prozesse der Synchronisation ist getragen von Wertschätzung füreinander und nicht vom Bestreben des einen, den anderen zu kontrollieren und zu manipulieren."

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Das ist schon in Zweierbeziehungen sehr brisant, folglich erst recht in Familien und anderen Arten von Menschengruppen. Jost weiter: "Eigenrthythmen sind biografisch aus der Vernetzung von biologisch-körperlichen und sprachlich-kulturellen Rhythmen entstanden. Sie sind das Ergebnis komplexer Abstimmungsprozesse; sie schaffen nicht nur gegenwärtige Zeitstrukturen, sondern gründen in der Vergangenheit und weisen in die Zukunft."

Da läßt sich erahnen, wie es sich auswirken muß, wenn jemand Jahrzehnte seines Lebens den ganzen Arbeitsalltag lang mit Maschinen synchronisiert wird. Im Kontrast dazu die Jost'sche Deutung: "Die gemeinsam gestaltete Zeit entfaltet ein Wechselspiel zwischen dem Einzelnen und dem Paar bzw. der Gruppe. Gemeinsam wird die soziale Zeit geschaffen." Das sind also zwei grundverscheidene Verhältnisse.

Ich denke, daraus ergeben sich hilfreiche Überlegungen, wenn man verstehen möchte, was Industrialisierung einst bedeutet hat und welche Konsequenzen uns daraus erwuchsen. Für unsere heutige Situation, da wir kaum noch Blue Collar-Workers in der Art der frühen Industrialisierung brauchen und die Gesellschaft sich auch der Sozialdemokratie offenbar weitgehend entledigt hat, wären in die Betrachtung noch jene Regelwerke einzuarbeiten, die man als "Bürgerliche Tugenden" versteht. Aber das würde mir die Sache im Moment zu komplex machen.

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Die Maschinisierung von Menschen ist ja nicht bloß zu Produktionszwecken verfeinert worden, auch zum Gegenteil, um Zerstörung zu optimieren. Als Kommandierende noch das entsetzliche Konzept der Linieninfanterie bevorzugten, mußten Menschen mit systematischer Gewalttätigkeit so abgestumpft und eingeschüchtert werden, daß sie sich als Soldaten für dieses Konzept eigneten. Ein Verfahren auf dem Schlachtfeld, das den Mannschaften abverlangte, sich in Reih und Glied, also breit und geschlossen, der feindlichen Waffenwirkung zu stellen, statt Deckung zu suchen und aus der Deckung heraus zu agieren.

Welche grauenhafte seelische Deformation muß man jemadnem verpassen, damit er sich in so eine Aufstellung eingliedern läßt, statt beim ersten Gewehrfeier davonzurennen? Der preußische Drill und die Kategorie "Kadavergehorsam" sind solchen Konzepten entsprungen. Die Nazi verstanden es dann auch, aus Menschenmassen Megamaschinen zu formieren und diese auf Schlachtfelder zu führen.

Ich hatte das Thema gestern kurz mit meinem bevorzugten Kaufmann erörtert, mit dem ich oft, wenn sein Geschäftsgang es erlaubt, zwischen den Regalreihen über das Leben plaudere. Wer wünscht Kriege und wem nützen sie? Was hatte einst ein Bauer davon, daß er die Familie verließ, das Vieh und die Felder verließ, um sein Leben in solchen Situationen zu riskieren? Den möglichen Nutzen lukrierte doch bloß sein Fürst, am Bauernleben bewirkte das nichts Vorteilhaftes. Noch weit weniger konnte ein Knecht daraus gewinnen, der ja im besten Fall überhaupt nur Gesundheit und Leben hatte, sonst nichts, die dann bedroht waren. Also: Wofür stehen wir ein und wofür stehen wir zur Verfügung?

-- [Maschinenprosa] --

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