8. Dezember 2018

Ich hab gestern notiert, es sei bei uns Tradition, eigenwillig Denkende zu bedrohen, einzuschüchtern. Es fällt leicht, sich das vorzustellen. Der Alltag läßt uns auch heute jederzeit die Grundlagen solcher Verhältnisse neu kennenlernen. Kann ich jemanden, der mir widerspricht, zu einer Verhaltensänderung bewegen? Würde es mir gefallen, das auch mit Gewalt zu versuchen, wenn mein Wort nicht genug wiegt?

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In der alten ständischen Gesellschaft vergangener Zeiten war klar geregelt, wer sich gegen wen auslassen darf, wem es zusteht, allen Unmut gegen wen zu äußern. Eine Hierarchie der Gewalttäigkeit, die bloß dann von einer Rebellion durchbrochen wurde, wenn es den Subalternen gar zu unerträglich wurde. Doch wenn solche Aufstände niedergeschlagen waren, hatten Rädelsführer mit entsetzlichen Körperstrafen zu rechnen, nicht einfach mit Züchtigung, sondern mit einem Zutodeschinden.

Reminiszenzen! In meinen Kindertagen war es völlig unangefochtene Praxis, die Erregung von Mißfallen mit Schlägen zu quittieren. Dafür konnte alles zum Anlaß werden. Ich erinnere mich noch heute an die Szene, den Ort, die Lichtverhältnisse und meine tiefe Irritation darüber, daß ich einen heftigen Schlag ins Gesicht bekam, weil ich eine mathematische Aufgabe nicht verstanden hab. Dieser Vorfall erhielt retrospektiv eine groteske Färbung, als ich später herausfand, daß ich definitiv um Kategorien klüger bin, als die Person, die mich geschlagen hatte.

Ich hab aus dieser meiner Kindheit heraus ein sehr lebhaftes Interesse an Dissens und Kontroversen behalten. Darum gefiel mir auch, was ich auf der gestern erwähnten Eisenbahnfahrt in Philipp Bloms Buch fand, diesen ausführlich formulierten Bannfluch, mit dem der junge Baruch de Spinoza 1656 aus seiner Gemeinde verstoßen wurde. Ich hab ein Faible für die Aspekte, in denen sich Peiniger offenbaren.

Da stellte sich erst einmal das Exekutivkomitee vor: "Die Senores des Ma’amad, denen die bösen Ansichten und Handlungen des Baruch de Espinoza lange bekannt gewesen sind, haben mit verschiedenen Mitteln und Versprechen versucht, ihn von seinen bösen Wegen abzubringen. Aber nachdem sie unfähig waren, ihn dazu zu bringen, seine bösen Gewohnheiten zu ändern", wurde eine härtere Gangart eingelegt. Dabei rafften sich die Senores zu einer Anmaßung auf, die ihnen maximale Autorität bescheinigen sollte.

"Durch den Erlass der Engel und durch den Befehl der Heiligen verbannen wir, stoßen wir aus, verdammen wir Baruch de Espinoza mit dem Einverständnis Gottes, gelobt sei er, und mit dem Einverständnis der gesamten heiligen Versammlung, vor diesen heiligen Schriftrollen mit sechshundert und dreizehn Geboten, die darin geschrieben stehen, mit der Exkommunikation, mit der Josua Jericho bannte, mit dem Fluch, mit dem Elischa die Jünglinge verfluchte, mit allen Flüchen, die im Gesetzbuch geschrieben sind."

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Im Original klingt das so: "Volgens het besluit der Engelen en het oordeel der Heiligen bannen, verstoten, verwensen en vervloeken wij Baruch de Espinoza, met toestemming van den Heiligen God en met toestemming dezer ganse heilige gemeente, voor de heilige Boeken der Wet met de 613 voorschriften, die daarin opgetekend zijn, met de ban, waarmee Jozua Jericho bande..." [Quelle]

Sie sehen den Trick dabei? Da könnte ja auch wer sagen: "Ich, der Bürgermeister, hab den ehrenwerten Richter und fünf Anwälte konsultiert, alles meine guten Freunde, und wir finden, diese Nervensäge muß verschwinden. Wer wollte uns dabei widersprechen?" Aber sie grasen den ganzen Himmel ab. Engel, Heilige und Gott selbst werden in ihr Boot reklamiert. Sie berufen sich auf Kontinuität, auf die Vergangenheit, auf Helden aus der Tiefe der Geschichte, etwa den Bezwinger von Jericho. Die lange Dauer wovon auch immer soll sie ebenfalls legitimieren, als wären sie immer schon dagewesen und der junge Denker frech dazugekommen.

So kennt man das ebenso von Tyrannen der jüngeren Vergangenheit. Selbst ein intellektueller Flachwurzler wie Adolf Hitler mochte nicht ohne die Berufung auf eine Vorsehung (höchste Instanz) und auf lange Dauer (Arier und Germanen) auskommen, um sich "vor der Geschichte", also quasi vor der Ewigkeit, aufzubäumen, hervorzutun. So werfen sich Helden in das Rad der Geschichte, auf daß alle, die ihnen widersprechen, lächerlich und unbotmäßig erscheinen mögen.

Offenbar fehlten den Herren in Amsterdam nötige Rechtsmittel, um Spinoza einfach kalt zu machen, ihn etwa wie Lucilio Vanini zu bedienen, ihm erst die Zunge herauszureißen, ihn dann zu erdrosseln, um ihn schließlich zu verbrennen. Also machte man genau das auf symbolischer Ebene.

Da hieß es: "Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er zu Bett geht und verflucht, wenn er aufsteht, verflucht, wenn er hinausgeht und verflucht, wenn er kommt." Schließlich stellten die Herren noch klar: "Wir befehlen, dass niemand mit ihm mündlich oder schriftlich kommunizieren darf, oder irgendetwas für ihn tun, oder unter dem selben Dach bleiben" etc. etc. Also umfassender sozialer Tod, von Fluch und Ächtung begleitet.

Es war eine sehr drastische Ahndung der schlichten Tatsache, daß Spinoza tat, was Immanuel Kant im Jahrhundert darauf, nämlich 1784, allen empfahl, um selbstverschuldete Unmündigkeit hinter sich zu lassen, nämlich sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.

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Diese Art der Anmaßung, das Ringen nach Mündigkeit zu bestrafen, ist natürlich nie aus der Mode gekommen und wird auf allen Ebenen sozialer Formationen weitergespielt. Die zeitgemäße, zivile Form pendelt zwischen der Vorhaltung, man solle gefälligst nicht so abgehoben reden und der Unterstellung von Fake News. Da Meinungsbildung ein fordernder Arbeitsprozeß ist, laßt sich diese Art von Wissenserwerb umgehen, indem man gar nicht nicht erst die Argumente des Gegenübers angreift, sondern besser gleich das Gegenüber selbst.

Ein Kind kann man verprügeln, wenn es auf seinen Ansichten beharrt. Mit Erwachsenen ist es kniffliger. Doch die Werkzeugkiste der Zurichtung bietet ein breites Sortiment, um Widerborstige zu bearbeiten. Dabei scheinen auch noch allerhand soziale Konventionen abrufbar, die dieses Geschäft erleichtern.

Ich hab, heute noch staunend, einen merkwürdigen Klang in den Ohren: wie mir jemand vor ein paar Jahren aus meiner nächsten Nähe völlig ernst und ohne jede ironische Brechung zurief: "Du wirst dich fügen!" So kam es zwar nicht, aber es ist ganz bemerkenswert, daß natürlich auch in meinem Milieu solche Anmaßungen immer noch zuhause sind, so ein Bedürfnis, Drohungen zu deponieren. Momentane Überlegenheitsgefühle, von denen sich jemand hinreißen läßt.

Wir kriegen eben den Untertan nicht so leicht aus uns heraus, jene geduckte Kreatur, die an Hierarchien gewöhnt ist und im Anlaßfall nach unten Tritte und Schläge austeilt; gemäß dem Bonmot "Der Sklave träumt nicht frei zu sein, sondern Herr zu sein. (Ein Gedanke, der vermutlich auf den Autor Gabriel Laub zurückgeht.)

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