1. April 2019

Die Lektüre einiger Arbeiten von Oliver Sacks und Antonio Damasio hatte mich seinerzeit verblüfft, irritiert, und mir eine Vorstellung von der Physis des Ich gegeben. Dieses Ich hat keinen bestimmten Ort im Körper, aber es hat eine organische Anlage, man müßte fast sagen: eine Produktionsstätte.

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Da wirkt eine sich ständig neu formierende Anordnung von feuernden Neuronen-Ensembles. Die Fallschilderungen der beiden Wissenschafter waren für mich vor allem sehr anregend, um zu verstehen, daß Wahrnehmung und Realitätsauffassung uns keinerlei "Realität" anbieten können. Wir sind auf Konsensrealität angewiesen. Auf Übereinkünfte. Die haben eine grundlegende Bedingung: Kommunikation.

Damit hat sich über die Jahre mein Verständnis von Kunst völlig verändert. Als Kind mußte ich nicht verstehen, was mich da so anzog. Ich hatte in Büchern und in manchen Gemälden Fluchtpunkte gefunden. An beidem, Bücher und Gemälde, war so vieles, was ich nicht begreifen, aber erfahren konnte. In diese Erfahrungen hineinzufallen, das bot einen Kontrast zu den Anmaßungen und Zumutungen, denen ein Kind ausgeliefert sein kann, wo Erwachsene Kinder nicht als ihre Schutzbefohlenen sehen, sondern als Bürde und als wehrloses Fleisch.

Als Erwachsender wollte ich es freilich genauer wissen. Es dauerte ja bloß zwanzig Jahre meines Lebens und ich war in der Kunst, um von dieser Möglichkeit nicht mehr abzurücken. Dabei wurde die Literatur meine Domäne. Vielleicht genau deshalb, weil unser Denkvermögen die Sprache so weit in den Schatten zu stellen vermag. Ich hab hier schon mehrfach meine Überzeugung erwähnt, daß wir in Worten, Bildern und Emotionen denken. (Dabei sind die Emotionen der körperliche Anteil am Denken.)

Das Schreiben wird mir dann dabei zum Reflexionswerkzeug. Heute braucht es gute Gründe, um mir morgens jene Unruhe zu ersparen, die mich befallen würde, wenn ich den Tag nicht mit Schreiben beginnen könnte. Ich habe oft erlebt, daß Menschen an mir diese Unruhe zu Tagesbeginn kritisieren. (Da bliebe zu fragen, was sich die Leute eigentlich unter einem Autor vorstellen.)

Selbstverständlich bringe ich einen wesentlichen Teil meines Lebens in der Sprache zu. Das hat keinen Selbstzweck, sondern ist mit anderen vitalen Momenten verzahnt. Aisthesis. Wahrnehmung wird von Menschen vollkommen unterschiedlich reguliert. Ich hab dabei einen relativ geringen Anteil für die Alltagsbewältigung reserviert. Ich kann mich nicht durchringen, vor allem Aufgeräumtheit zu produzieren. (Hat denn Ihr Tag mehr als 24 Stunden? Meiner nicht.)

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Aber zurück zu den Neuronen-Ensembles. Es gilt als geklärt: Unsere Gehirne verfügen jeweils über rund 86 Milliarden Neuronen, die in ununterbrochenen Prozessen von Versuch und Irrtum flimmern, so lange wir leben. Ja, nein. Taugt, taugt nichts. (Es soll tatsächlich so binär sein.) Das geschieht in einem Tempo, einer Komplexität und einer Permanenz, die wir nicht wahrnehmen können.

Ich hab letzten November von Daniel Denett erzählt, der darlegt, wie die Neuronen unsere Erlebnisse konstruieren. In diesen Zusammenhängen habe das Gehirn eine Benutzer-Illusion geschaffen, die wir Ich nennen. Es klingt auf Anhieb sehr provokant, wenn wir akzeptieren sollten, daß "der autonome Akteur" womöglich eine Illusion ist und dieses Ich, als das wir uns spüren, eine Art Benutzeroberfläche ist. Eine auf Metaphern beruhende Benutzeroberfläche.

Andrerseits liefert dieser Stand der Debatte in der Neurologie, in den Kognitionswissenschaften, einen ziemlich radikalen Blickwinkel auf das, was wir unter Kunst verstehen. Da geht auch noch sehr gut drunter, was uns die Radikalen Konstruktivisten mit auf den Weg gegangen haben. Ich werde nicht müde, an jenen Moment im Graz von 1996 zu erinnern, da Heinz von Foerster im Gedränge eines überfüllten Veranstaltungsraumes auf einen Sessel stieg, damit wir ihn alle hören konnten. Sein erster Satz aus dieser Position lautete: "Das Gehirn bildet nicht ab!" Es deutet eingehende Signale und baut daraus das, was wir für Wahrnehmung halten.

Die Poesie ist demnach als Poiesis der naturgegebenen Normalzustand und der notwendige Dauerzustand. Ein Erzeugen. Das müßte sich freilich nicht für alle von uns als Option der Kunst ereignen. Aber wir haben die Möglichkeit dazu, also tun wir es; vor allem weil wir ganz offenkundig sinnsüchtige Wesen sind. Oder, um es moderater auszudrücken, wir sind auf Sinnstiftung angewiesen, um angemessen leben zu können.

Es ist allein schon damit belegt, daß es Menschen tötet, oder sie mindestens drängt, ihren Verstand zu verlieren, wenn man sie nur lang genug zwingt, sinnlose Dinge zu tun. Menschen haben genau das übrigens institutionalisiert und dafür quasi Versuchsanstalten geschaffen. Viele Gefängnisse entsprechen dem. Doch die radikalste Möglichkeit, solche Umstände zu erzeugen, ist das Lager.

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Ich hab in einem Eintrag vor wenigen Tagen Giorgio Agamben und sein Buch "Homo sacer" erwähnt. Im Kapitel "Das Lager als nómos der Moderne" nennt er es den Ort, "an dem sich der höchste Grad der conditio inhumana verwirklicht hat, die es auf Erden je gegeben hat." Agamben belegt überdies, daß das Lager nicht aus dem "gewöhnlichen Recht" hervorgeht. Ein Sonderfall der Menschenveachtung.

Mich hat das über Jahrzehnte im Bann gehalten. Was bewegt jene, die derlei conditio inhumana  überleben konnten? Sie haben jene Kaltherzigkeit und Anmaßung überstanden, die wir auch im familiären Alltag kennenlernen können. Die südslawischen Leute haben das übrigens als Lehnwort übernommen. Im Serbokroatischen heißt es Logor.

Wo die Aggressoren Zeit hatten, konnten sie Menschen mit Arbeit totschinden und mit Sinnlosigkeit erdrücken. Wo es schneller geschehen mußte, standen Folter und Mord als rasche Mittel im Fokus, wie wir Menschen das seit der Neolithischen Revolution pflegen. Eine praktische wie obszöne Art der Sinnlosigkeit. Keraterm, Omarska, Trnopolje, um nur einige dieser Plätze auf dem Balkan zu nennen, die seit den 1990er Jahren auf diese Art kontaminiert sind.

Im Dezember 2013 hab ich hier vom bosnischen Dichter Muhidin Saric erzählt, mit dem ich zwei spezielle Abende teilen durfte. In einem seiner Bücher heißt es: "Ich beneide den Tod um seine Besonnenheit und Ruhe. Er ist still und ausdrucklos."

Im Dezember 2017 hab ich hier bei einer kleinen Rückschau meine Begegnung mit Osvaldo Puccio Huidobro, dem damaligen Botschafter Chiles, erwähnt, der unter Pinochet ein Foltercamp überlebt hat. Es dürfte nicht repräsentativ sein, aber beide haben eine innige Beziehung zur Poesie.

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