8. Mai 2019

Tempo, Distanz und Härte. Es scheint, als hätten wir in diesen Zeiten des Zorns neue Muster entwickelt, die nicht bloß online wirksam werden, sondern auch im privaten Umgang miteinander greifen. Wer schon Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in Netzwerken zugange war, kannte den Effekt. In Online-Gruppen gab es wenigstens Administratoren, die eingriffen, wenn jemand gegen andere aggressiv vorging. Wir machten mit Trollen Erfahrungen, die durch ihre Angriffslust jede Gruppe sprengen konnten. Vor allem, weil sie – gleich Hooligans – nicht zu attackieren aufhörten, wenn ein Fall erledigt sein sollte.

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Aus jenen frühen Tagen der Netzkultur stammt der Rat: „Don’t feed the troll!" Gib ihm kein weiteres Futter. Antworte nicht, sonst macht der ewig weiter. Wenn Trolle wegen ihres zerstörerischen Verhaltens aus einer Gruppe ausgeschlossen wurden, tauchten sie eventuell mit neuer Identität wieder auf, bis sie aufgrund ihres Verhaltens identifiziert wurden oder aus anderen unliebsamen Gründen erneut gesperrt wurden.

Wir mußten uns alle erst eine Netiquette erarbeiten, eine Etikette für das Leben in den Netzen. Aus jenen frühen Tagen als Netizen, dem Citizen als Bewohner der Netze, wußten viele, daß die Dinge in der Online-Kommunikation meist härter rüberkommen und schneller hochgehen, wie das Face to Face, also in realer sozialer Begegnung, eher nicht vorkäme; außer jemand hat ausnehmend schlechtes Benehmen, hinlängliche Rücksichtslosigkeit.

So gesehen sind aktuelle Haßpostings, Shitstorms etc. weder neu, noch essentiell anders als die alten Flamings. Es hieß: „Jemanden flamen". Diese Flammenwerfer-Metapher ist ja sehr aufschlußreich. Neu ist die Dimension der Bühne und daß Software mit Scheinidentitäten (Bots) mitmischt. Vor diesem Hintergrund verblüfft mich allerdings, daß solche Verschärfungen des Tonfalls auch in die private Kommunikation Einzug hielten. Aber vielleicht ist das bloß konsequent und fast zwingend. Wenn es im Online-Alltag üblich wird, färbt es eben auch auf den persönlichen Umgang ab. Die Brutalisierung einer Gesellschaft hat natürlich im Umgang der Einzelnen wichtige Quellen.

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So ist es dann erklärlich, daß zum Beispiel eine Person, die einen Kopf kleiner ist als ich und nicht einmal die Hälfte meines Gewichts auf die Waage bringt, mich völlig bedenkenlos und ausdauernd attackiert, was jemand aus meinem Milieu in realer sozialer Begegnung kaum wagen würde. Wo nur Text als Mittel und auch Waffe der Wahl bleibt, müßten wir demnach eine ganz andere Selbstdisziplin entwickeln (Netiquette), weil ja die gewohnten Warnsysteme aus älterer menschlicher Gemeinschaft nicht greifen.

Dabei kommt es mitunter zu verblüffenden Widersprüchlichkeiten. Kaum taucht in einer heiklen Frage Dissens auf, kann dir jemand unverhofft eine reinsemmeln, daß du über Spielarten der Verachtung wieder etwas dazulernst. Aber die nämliche Person hat vorher gelegentlich das Thema „Gewaltfreie Kommunikation" als fruchtbare Inspiration erwähnt, deren bekanntesten Exponenten Marshall B. Rosenberg ausdrücklich gelobt.

Irritierend? Inkonsequent? Mag sein. Bei einer Wahl der Waffen, um die eigene Position zu verbessern, bleibt das nachrangig. Wie ich es gestern schon erwähnt hab, als ich von meinen Erörterungen mit Mathematiker Müller erzählte: Vermutlich war das nie anders und hat eben seine Konjunkturen.

Das regt mich nun nicht gerade rasend auf, weil ich a) selbst ein ursprünglich mühsam zivilisierter Raufbold des Emotionalen bin, also in Konfliktlagen eine wandelnde Ex-Bedrohung, und weil ich b) inzwischen sehr daran interessiert bin, dem Status quo mit tauglichen Beschreibungen nahezukommen. Wie geht das? Na mit teilnehmender Beobachtung, was natürlich bedeutet, da kommt man nicht ohne Blessuren durch ;-)

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Man muß sich gar nicht erst besonders um authentische Quellen bemühen. Wie erwähnt, das Privatleben bietet längst laufend Gelegenheit, den Stand der Dinge zu erkunden. Was am aktuellen Kampfklima so bemerkenswert ist: Die selben Menschen, von denen man eben noch harsche Kritik an Haß-Postings in den Social Media hören konnte, haben bei privater Auseinandersetzung ihre Reizschwelle in Bestzeit unten bei den Knöcheln. Sie werden mit ihrem psychologischen Know how außerdem darlegen, warum sie nun derart zulangen müssen und dürfen.

Sie werden mit eben diesem Know how auch begründen, warum sie weder aufhören, noch zurückstecken können. Das ist ein wenig gruselig, aber offenbar zeitgemäß. Da stößt dann auch ein Ersuchen um Mäßigung oder gar Pause auf taube Ohren. Die beiläufige Erwähnung des Anspruches auf Definitionsmacht markiert das Kenntnis-Niveau solcher Gegenüber. Im Vergleich dazu: der gängige Rüpel hat keinen Tau von Fragen nach Definitionshoheit, schlägt nach ganz eigenem Ermessen zu. Ihm ist sein Empfinden genug Legitimation.

Bildungsbürgerliche Rabauken sind da anspruchsvoller. Sie möchten sich zwar austoben, aber es muß ideologisch in Ordnung sein. Das erinnert übrigens sehr an ein Grundmuster von Terroristen. Der Terrorist will nicht einfach Täter sein, Delinquent, schon gar nicht ein plumper Mörder. Darum schiebt er „höhere Ziele“ vor, egal, ob diese Motive ethnisch, politisch oder religiös getönt werden. Aber wenn er mit allem was er hat zuschlägt, wenn er angreift, dann soll das inhaltlich legitim erscheinen.

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