28. Juni 2019

Apropos Verschnöselung. In diesen Tagen, da unser aller Telepräsenz von vielstimmigen Schlachtgesängen erfüllt ist, stellen Menschen einander mit großer Leidenschaft psychologische Befunde zu. Freud auf schlampig. Da kommt kein grundlegender Respekt für Andersdenkende auf, sondern wir erleben Instant-Tribunale. Das geht zack, zack, zack.


Ich hab mir in diesem Zusammenhang vor einer Weile eine interessante Aussage des Psychiaters Manfred Lütz notiert: „Um eine psychiatrische Diagnose zu erstellen, müssen sie immer auch eine körperliche Untersuchung machen, weil eine körperliche Störung alle psychischen Störungen imitieren kann. Chamäleonartig. Das heißt, sie können denken, das ist eine Depression, in Wirklichkeit ist es eine Schilddrüsenerkrankung. Die haben sie aber nicht festgestellt.“

Ich staune stets neu, wie sehr unsere Psyche in Körperchemie eingebettet ist. Darin liegt ein weiterer kleiner Hinweis, wie sehr sich da jede Fernfuchtelei verbietet. Und wie sehr wir uns eigentlich über Dissens freuen könnten, denn er gibt uns Anlaß, die eigene Haltung gegenüber Andersdenkenden zu überprüfen. Wäre das nicht ein konstituierender Aspekt von Demokratie?

Inzwischen scheint mir allerdings, daß sich selbst in meinem nächsten Umfeld die eine oder andere Sekte der gnadenlos Guten formiert hat, deren selbstreferentielle Verfaßtheit anscheinend gebietet, Andersdenkende herabzusetzen und deren Ansichten als irrelevant zu kennzeichnen.

Das geht freilich nicht ohne Legitimation. Die stellt man sich am besten selbst aus. Und nun: Fest, Jubel, Trommelwirbel, Fanfare! Oder wie es Matthias Marschik ausdrückte: „Und bejubelt werden die Erfolgreichen oder die Erfolgversprechenden.“ Aber wie kommt es dazu? Ich sag es ja: selbstreferentiell. Oder Marschik: „Und weil sie inzwischen selbst definieren, was Erfolg ist, sind sie auch erfolgreich.“

Dazu fällt mir erneut die glänzend inszenierte Geschwätzigkeit der „ABOUT YOU Awards 2019“ ein, die ich im vorigen Eintrag erwähnt habe. Dieses „Man ist dafür berühmt, berühmt zu sein“.

Vielleicht gilt es zu verstehen, daß einiges so kommen mußte, wo wir die Feudalzeit gekippt und den Hof abgeschafft haben, aber das Höfische nicht aufgeben möchten. Wenn schon der Pöbel zum Zug kommt, dann sollte man sich im Gepränge bewähren können, falls man es schafft, zum Hofstaat zu gehören; und sei es nur am Rande, aber doch am liebsten im Zentrum.

Nein, ich meine das nicht zynisch, sondern versuche zu begreifen, wo der Fokus liegt, wovon die Verhältnisse geprägt sind und wovon das alles handelt.

Yorgos Lanthimos hat mich mit seinem Film The Favourite (2018) ziemlich beeindruckt. Darin erscheint mir sehr plausibel dargestellt, was ich mir unter „höfisch“ vorstellen darf; sowohl in der psychologischen wie in der materiellen Ausstattung. Hofschranzen und Majestäten im Wechselspiel.

Eben solches Hofschranzentum, das sich um den Souverän drängt, aufgeblasen und auffallend gekleidet, finde ich dann in der Variante für den Pöbel bei den „ABOUT YOU Awards“. Noble Distanz durch Distanz. (Aber wehe, eine dieser Figuren macht den Mund auf!)

Nein, ich stoße mich nicht daran. Nicht mehr. Archäologin Sarah Wolfmayr hat mir kürzlich einen kleinen Eindruck verschafft, mit welch enormem Gepränge und Aufwand an Inszenierungen einst die Arena bespielt wurde.

Der Zirkus mit seinem Glanz und seinen Grausamkeiten als innenpolitische Strategie und als kulturelles Phänomen. Ein Gladiator mußte zu keinen geistreichen Aussagen fähig sein, er mußte bloß unterhaltsam sterben. There’s no business like show business. Ich verstehe das.

Aber ich hätte gerne, daß sich die Politik des Landes davon essentiell unterscheiden ließe und insbesondere die Kulturpolitik wie auch die kulturelle Praxis. Zu viel verlangt? Wir werden sehn…

-- [Das Feuilleton] --

[kontakt] [reset] [krusche]